Julia Extra Band 0350
Hotel. Ich glaube nicht …“
„Sprechen Sie erst einmal mit der Polizei“, riet die Frau ihr und blickte bereits an Hannah vorbei, um den Nächsten in der Warteschlange nach vorne zu bitten.
„Aber …“ Hannah beugte sich vor und flüsterte verzweifelt: „Ich habe kein Geld.“
Die Angestellte zuckte nicht mit der Wimper. „Benutzen Sie Ihre Kreditkarte.“
Natürlich. Das war ja auch normal. Nur, dass sie ihre Kreditkarten zerschnitten hatte, als ihr klar geworden war, wie viel unbezahlte Rechnungen ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Und nachdem sie all die Rechnungen endlich bezahlt hatte, hatte sie sich geschworen, nie wieder Schulden zu machen.
Die Frau hinter dem Schalter schien etwas von ihrem Dilemma zu ahnen, denn sie sagte ungeduldig: „Dann rufen Sie jemanden an. In Amerika. Und lassen sich Geld überweisen.“
„Natürlich.“ Hannah begriff endlich, wie tief sie in Schwierigkeiten steckte. „Vielen Dank für Ihre Mühe.“
„Keine Ursache“, erwiderte die Frau und wandte sich dem Nächsten zu.
Bedrückt verließ Hannah das Konsulat. Nach einem milden Frühlingstag war es draußen inzwischen frisch geworden, und der Himmel zeigte sich in abweisendem Grau. Hannah musste sich sehr zusammenreißen, um nicht richtig in Panik zu geraten. Normalerweise war sie ein optimistischer Mensch, stets bemüht, in allem und jedem das Beste zu sehen. Aber nun wurde es allmählich dunkel, und sie hatte kein Geld, keinen Pass und wusste wirklich nicht, was sie tun sollte.
Sie hatte keine Freunde, die so viel Geld besaßen, dass sie sie einfach hätte bitten können, ihr einige Hundert Dollar oder mehr für einen neuen Pass, Hotelkosten und womöglich ein neues Flugticket zu überweisen. Für diese Reise hatte sie ihre letzten Ersparnisse aufgebraucht, was natürlich unvernünftig und impulsiv gewesen war und ihrem eigentlichen Wesen widersprochen hatte. Aber der russische Zorro auf dem Roten Platz hatte sie ja offensichtlich für ziemlich unvernünftig und dumm gehalten, und wahrscheinlich recht gehabt. Denn sonst hätte sie jetzt wohl kaum inmitten des geschäftigen Treibens auf den Stufen zur amerikanischen Botschaft gestanden, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden und was sie tun könnte.
Verzweifelt schluckte sie die aufsteigende Panik hinunter. Es musste doch eine Lösung geben …
„Da sind Sie ja.“
Hannah blickte auf und sah im Zwielicht der Abenddämmerung zu ihrer Überraschung den Mann vom Roten Platz auf sich zukommen. Umweht von seinem langen schwarzen Mantel, das markante Gesicht unnahbar und verschlossen, wirkte er mehr denn je wie ein dunkler Racheengel. Aber obwohl der Blick seiner eisblauen Augen sichtlich gereizt auf ihr ruhte, war Hannah unendlich erleichtert und froh, ihn zu sehen. Wenigstens ein vertrautes Gesicht.
„Was tun Sie hier?“
„Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie das mit Ihrem Pass geregelt haben.“
„Das ist sehr nett von Ihnen“, sagte sie vorsichtig. „Aber unnötig.“
„Ich weiß.“ Seine Mundwinkel zuckten. Man konnte es kaum ein Lächeln nennen, trotzdem fühlte sich Hannah plötzlich sicherer und mutiger. Zum ersten Mal wurde ihr auch bewusst, dass der Fremde tatsächlich ein sehr attraktiver Mann war. „Haben Sie Ersatz für Ihren Pass bekommen?“, fragte er nun.
„Nein. Nur ein Antragsformular.“ Sie hielt es halbherzig hoch. „Offensichtlich muss ich erst zur Polizei und Anzeige erstatten.“
„Auf den Ämtern hier herrscht Chaos.“ Er schüttelte verächtlich den Kopf. „Oder Korruption. Oder beides. So eine Anzeige kann Stunden dauern.“
„Na wundervoll.“ Ihr Flug ging in gut zwei Stunden. Sie konnte ihn abschreiben.
„Haben Sie überhaupt noch etwas Geld?“
Sie zuckte gespielt gelassen die Schultern. „Ein bisschen auf dem Konto.“ Aber nicht annähernd genug, um die Gebühr für den Pass, ein Hotel, Essen und andere nötige Ausgaben zu bezahlen.
„Eine Kreditkarte?“
Entweder hatte er mit der Frau im Konsulat gesprochen, oder er konnte Gedanken lesen. „Nein.“
Sein herablassendes Kopfschütteln war ihr schon vertraut. „Sie reisen in der Weltgeschichte herum … ausgerechnet nach Russland … ohne Kreditkarte und ohne Ersparnisse?“
„Klingt ziemlich dumm, nicht wahr?“, räumte Hannah ein. Sie hatte jedoch nicht vor, ihm zu erklären, warum sie sich wegen der Reise nicht hatte verschulden wollen oder warum sie mit Kreditkarten vorsichtig war. „Aber diese Reise war sozusagen eine einmalige
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