Julia Extra Band 0350
Augen ernst blickten. „Also gut.“
Sie lachte erleichtert. „Schön, und was genau geschieht jetzt?“
„Komm mit mir.“
„Aber habe ich das nicht schon getan? Ich bin doch mit dir nach Paris gekommen.“
Er sah sie eindringlich an. „Komm mit mir nach Hause.“
10. KAPITEL
Sergej blickte auf den jüngsten Geschäftsbericht, aber die Zahlen und Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. In den letzten zwei Tagen, seit er Hannah gesagt hatte, er wolle eine andere Art von Beziehung, hatte er sich auf nichts mehr konzentrieren können. Denn er hatte keine Ahnung, was er wirklich wollte und wie er es erreichen sollte.
Müde rieb er sich den verspannten Nacken und schob die Unterlagen weg. Zweifel und Zögern waren ihm normalerweise fremd. Dass er jetzt keine Ahnung hatte, was er tun sollte, machte ihn rastlos und gereizt.
Ein dezentes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Auf sein schroffes „Herein“ betrat Grigori sein Büro. Wortlos, als würde er Sergejs Zweifel genau spüren, legte er ihm einige Briefe zur Unterschrift vor.
„Hast du etwas von Varya gehört?“, fragte Sergej unvermittelt.
Grigori schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, dass sie bald wieder auftaucht.“
Sergej nickte. Er wusste, dass Varyas letzter „Auftritt“ seinem Assistenten Kummer und Sorge bereitet hatte. Einige Wochen zuvor war Varya nämlich mit einem blauen Auge und einem Arm in der Schlinge bei ihnen im Büro aufgetaucht. Sergej war richtig wütend gewesen und hatte sie energischer als sonst gedrängt, endlich bei ihm und in Sicherheit zu bleiben. Doch sie war wie üblich wenige Tage später schon wieder auf der Straße abgetaucht.
Wie kannst du ändern, wer du bist?
Hannahs Frage kam ihm in den Sinn. Varya zumindest schien sich nicht ändern zu können; die Verletzungen aus ihrer Kindheit hatten sie für ihr ganzes Leben gezeichnet. Vielleicht war es ja bei ihm ähnlich. Vielleicht würde er nie einen anderen Menschen wirklich an sich herankommen lassen. Vielleicht war er zu „geschädigt“, wie ihn damals die Therapeuten im Waisenhaus mit vierzehn beurteilt hatten.
„Grigori?“ Er rief seinen Assistenten zurück, der sein Büro verlassen wollte. „Liebst du Varya?“ Als er sah, wie Grigori rot wurde, bereute er seine unverblümte Frage sofort. „Verzeih … ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“
„Schon gut“, erwiderte Grigori. „Mir ist schon klar, dass es nichts werden kann.“
Sergej spielte nachdenklich mit dem Kugelschreiber. „Hast du sie schon immer geliebt?“
„Seit unserer Kinderzeit“, gestand Grigori. Und Sergej sah die beiden vor sich im Waisenhaus: Varya, die kleine, verträumte, feenhafte Schönheit, Grigori, der schmächtige, stammelnde Junge mit dem entstellenden Feuermal. Sie waren beide leichte Opfer gewesen. „Wir haben uns Geschichten ausgedacht und Pläne geschmiedet, wie unser Leben nach dem Waisenhaus sein würde.“
Sergej sah ihn erstaunt an, denn das hatte er nicht gewusst. Obwohl er sein Bestes getan hatte, Varya und Grigori zuerst im Waisenhaus und später auf der Straße zu beschützen, war er doch immer ein Einzelgänger gewesen. „Was für Pläne?“
Grigori räusperte sich verlegen. „Nun ja, wir wollten unsere Kopeken sparen und uns irgendwo weit draußen auf dem Land eine kleine Datscha kaufen, um dort zusammenzuleben.“ Er lächelte traurig. „Manche Träume werden nie wahr, stimmt’s?“
„Vielleicht ist es immer noch möglich“, wandte Sergej halbherzig ein. „Ihr seid ja beide noch jung.“
„Ach, Serjosha“, nannte Grigori ihn bei dem Kosenamen, den Varya ihm als Kind gegeben hatte, „keiner von uns ist mehr wirklich jung. Wir sind in unseren Herzen alt und das schon seit langer Zeit.“ Traurig lächelnd verließ er Sergejs Büro.
Sergej blickte blind zum Fenster hinaus. Deprimiert fragte er sich, ob irgendeines der Kinder, mit denen er aufgewachsen war, so etwas wie Glück gefunden hatte. War Alyona glücklich geworden? Vor einigen Tagen hatte ihn der Privatermittler angerufen und von vielversprechenden Spuren gesprochen, die nach Kalifornien führten. Sergej wagte nicht zu hoffen. Aber Alyona hatte wenigstens eine Chance bekommen.
Ruhelos stand er auf und ging zum Fenster. Am Morgen hatte er sich mit Hannah gestritten, bevor er sie in seinem Penthouse mit Blick auf den Manegenplatz zurückgelassen hatte. Sie hatte enttäuscht und abweisend reagiert, als er ihr seine Platinkreditkarte in die Hand gedrückt hatte mit
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