Julia Extra Band 0354
einfacher für uns gewesen, hätten wir die Angelegenheit mit dem Nachlass zügig regeln können.“
Helena war immer noch nicht ganz auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt. Alles schien nur ein Traum zu sein. Oscar, die erste, einzige und große Liebe ihres Lebens, Oscar, der ihr gezeigt hatte, was es hieß, jemanden zu begehren und begehrt zu werden, war plötzlich wieder da und würde für das nächste Jahr wieder Teil ihres Lebens sein.
Nie würde sie die heimlichen Treffen unter der alten Weide hinter dem Obstgarten vergessen. Es war ihre Weide , und sie knüpfte daran die schönsten Erinnerungen ihres Lebens. Und dann das jähe Ende. Oscar hatte die Beziehung abrupt und ohne große Erklärungen beendet. Er hatte ihr das Herz gebrochen, hatte sich nach Griechenland abgesetzt, und sie hatte ihn nie wiedergesehen.
Helena biss sich auf die Lippe. Hatte er je über die Zeit ihrer Liebe nachgedacht, hatte er dabei irgendetwas gefühlt – Bedauern, Reue oder gar Trauer, einen Menschen verloren zu haben, der ihm einmal viel bedeutet hatte? Wahrscheinlich nicht. Realistisch betrachtet war die kleine Gärtnerstochter für ihn nur eine von vielen Frauen gewesen, die ihm erlegen waren.
Schluss mit den Hirngespinsten, die würden ihr nicht weiterhelfen. Statt über die Vergangenheit zu grübeln, sollte sie lieber die Zukunft planen. Durch die Erbschaft eröffneten sich ihr völlig neue Perspektiven, und sie musste Entscheidungen treffen.
Oscar, das fiel ihr jetzt erst auf, hatte mit keinem Wort erwähnt, dass er dankbar war, von Isobel so großzügig bedacht worden zu sein. Wahrscheinlich war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, schließlich gehörten beide zum reichen und mächtigen Clan der Theotokis.
Mulberry Court war für Oscar vermutlich nur eine Immobilie mehr in seinem Besitz – eher unbedeutend und vor allem lästig, weil er nicht die alleinige Verfügungsgewalt darüber besaß. Doch daran war nun nichts zu ändern: Ohne Helenas Einwilligung konnte er keine Entscheidungen treffen. Sie straffte die Schultern.
„Wir müssen unbedingt einige Punkte klären“, begann sie ruhig, zögerte dann jedoch etwas. „Ich weiß, wie sehr Isobel Mulberry Court mit all den Möbeln, Büchern und Antiquitäten aus aller Welt geliebt hat. Dieses Haus war für sie viel mehr als einfach nur eine Wohnstatt. Das sollten wir respektieren.“ Mulberry Court war voller Schätze, die Isobel von ihren vielen Reisen mitgebracht hatte, die Sammlung kostbarer Porzellanfiguren bildete nur einen kleinen Teil davon.
„Wir wollen ja auch nichts verschleudern. Für die Kunstgegenstände holen wir Gutachten ein und verkaufen nur an seriöse Sammler.“ Für Oscar schien alles kein Problem. „Den Auftrag für die Schätzung der Erbmasse können wir sofort vergeben, dann wissen wir wenigstens, womit wir ungefähr rechnen können.“
Typisch Mann! Helena runzelte die Stirn. Der Gedanke, was Mulberry Court für Isobel bedeutet hatte und wie sie ein solches Vorgehen empfunden hätte, kam ihm erst gar nicht.
Helena sah die ganze Angelegenheit in völlig anderem Licht. Sie hatte Kindheit und Jugend auf dem Anwesen verbracht und hing daran – nicht zuletzt, weil Isobel sie fast wie eine eigene Tochter behandelt hatte. Sie hatte ihr nie das Gefühl gegeben, nur das Kind eines Dienstboten zu sein.
„Das halte ich für den falschen Weg“, widersprach sie, traute sich jedoch nicht, ihn dabei anzusehen. „Das Teilen liegt in unserer Verantwortung, wir sollten es nicht Fremden überlassen.“
Erstaunt zog Oscar die Brauen hoch. Helena widersprach ihm, damit hatte er nicht gerechnet. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, dass er selbst beim kleinsten Schritt auf ihre Zustimmung angewiesen war.
„Wahrscheinlich hast du sogar recht“, stimmte er diplomatisch zu. „Aber meine Zeit ist sehr begrenzt. Schon Ende des Monats muss ich zurück nach Griechenland, und bis dahin bin ich mit der Leitung unserer Niederlassung in London beschäftigt.“ Er schwieg einen Moment. „Wie sieht es bei dir aus? Du wohnst und arbeitest in London, das weiß ich von Isobel. Immer wieder hat sie mir davon vorgeschwärmt, was für eine Karriere du hingelegt hast.“
Helena nickte. „Ja, ich habe studiert und bin leitende Angestellte einer Agentur für Arbeitsvermittlung, möchte mich allerdings neu orientieren.“ Sie biss sich auf die Lippe. Es würde nicht einfach sein, etwas Neues zu finden, das sie nicht nur reizte, sondern auch noch gut
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