Julia Extra Band 0354
seiner Ausstrahlung war sie immer wieder aufs Neue wie verzaubert, unfähig, sich dagegen zu wehren.
Nervös verschränkte sie die Hände. Wie hatte sie nur so naiv sein können, dass sie das hier unvorbereitet traf! Sie hätte damit rechnen müssen, Isobels Großneffen bei der Testamentseröffnung über den Weg zu laufen, doch der Gedanke war ihr überhaupt nicht gekommen. Oscars Erscheinen brachte sie völlig aus der Fassung.
Sein glänzend schwarzes Haar war kürzer geschnitten als damals, doch an seinem dunklen Teint, der hohen Stirn und dem energischen Kinn hatte sich nichts geändert. Auch seine Lippen, die sie so oft geküsst hatte, hatten nichts von ihrer verführerischen Sinnlichkeit verloren.
Seinen dunklen Designeranzug trug er mit der eleganten Lässigkeit eines großen, sportlichen Mannes. Auf eine Krawatte hatte er verzichtet, und die obersten Knöpfe seines weißen Hemdes standen offen. Helena erhaschte einen Blick auf sein dunkles Brusthaar und musste erneut schlucken.
Es war schließlich John Mayhew, der das Schweigen brach. „Ich nehme an, Sie kennen sich flüchtig, trotzdem möchte ich Sie der Form halber vorstellen. Dies …“
Er wurde von Oscar unterbrochen. Seine Stimme klang noch ebenso sonor wie früher – auch den leichten griechischen Akzent, der alle Koseworte noch zärtlicher klingen ließ, hatte er nicht abgelegt.
„Das ist wirklich nicht nötig, John. Helena und ich kennen einander sehr gut, ich habe die Ferien schließlich oft genug bei meiner Großtante verbracht.“ Er kam einen Schritt auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Wie geht es dir, Heleena ?“
Seine besondere Art, ihren Namen auszusprechen, weckte lang verschüttete Erinnerungen, und sie verspürte ein sehnsüchtiges Ziehen im Bauch. Dennoch gelang es ihr, unverbindlich zu lächeln.
„Gut, danke.“ Als sich ihre Finger berührten, spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Und dir?“
„Ich kann nicht klagen.“ Oscar rückte ihr einen der beiden Ledersessel vor John Mayhews Schreibtisch zurecht, setzte sich in den anderen und beobachtete Helena aus den Augenwinkeln. Aus dem blassen, oft in sich gekehrten Mädchen mit dem wehmütigen Lächeln war eine beeindruckende Frau geworden. Sie war schön, kultiviert und selbstbewusst – also genauso, wie er sich eine Frau wünschte.
Sie trug ein perfekt sitzendes dunkelblaues Kostüm aus feinstem Wollstoff, dazu eine champagnerfarbene Seidenbluse, hochhackige Pumps und hauchdünne dunkle Strümpfe. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und unwillkürlich malte er sich sofort aus, sie zu küssen. Doch es waren ihre Augen, die ihn am meisten faszinierten. Helenas Blick hatte er nie vergessen können.
Er gab sich einen Ruck, setzte sich aufrechter hin und konzentrierte sich auf John Mayhew. Dieser hatte sich einen Stapel Papiere zurechtgelegt, ergriff das oberste Blatt und begann zu lesen.
„Dies ist der Letzte Wille und das Testament von Isobel Marina Theotokis, wohnhaft in Mulberry Court, Grafschaft Dorset“, begann er und las dann in gleichförmigem Ton eine Vielzahl von Verfügungen und Schenkungen vor.
Seine Stimme wirkte beruhigend auf Helena, und erleichtert stellte sie fest, dass sich ihr Puls wieder normalisierte. Wie viele Testamente John Mayhew wohl schon verlesen hatte? Es mussten unzählige sein.
Der Raum wurde von den Strahlen der Nachmittagssonne angenehm erwärmt, und Helena lehnte sich vor, um kein Wort des Notars zu verpassen. Das lenkte sie wenigstens von Oscars Rasierwasser ab, dessen Duft sie deutlich wahrnahm – und der gefährliche Wünsche weckte.
John Mayhew räusperte sich.
„Meinem geliebten Großneffen Oscar Theotokis vermache ich die Hälfte meines Anwesens Mulberry Court in der Grafschaft Dorset. Das schließt das Haus und Grund und Boden samt aller beweglichen und unbeweglichen Güter ein. Die andere Hälfte geht in gleicher Weise an meine langjährige Freundin Helena Kingston. Die beiden Begünstigten sind gleichberechtigt und sollen sich den Besitz teilen.“
Hatte sie sich verhört? Helena rang nach Atem und krallte die Hände in die Armlehnen des Sessels, um nicht aufzuspringen. Wachte oder träumte sie? Sie hatte mit den beiden geliebten Porzellanfiguren aus der Bibliothek gerechnet, nicht mit dem Haus! Mulberry Court sollte zur Hälfte ihr gehören? Das musste ein Irrtum sein!
Oscar anzusehen, traute sie sich nicht. Wie musste ihm, dem Blutsverwandten und rechtmäßigen Erben, zumute sein? Ihm stand Mulberry
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