Julia Extra Band 356 - Ebook
zerrte an ihren schon angespannten Nerven.
„Nein“, gab sie zu. „Ich weiß, dass du ihn nicht allein lassen würdest. Ich konnte gestern doch sehen, wie viel dir an ihm liegt.“
Carlos hatte auf jeden noch so kleinen Wink von Javier reagiert, hatte Wein und Wasser nachgeschenkt, hatte Essen aufgelegt, hatte sofort die Serviette aufgehoben, als sie zu Boden gefallen war. Und als der alte Mann verkündet hatte, er sei müde und wolle sich zurückziehen, war Carlos aufgesprungen und hatte dafür gesorgt, dass Javier mit seinem Rollstuhl ungehindert durchkommen konnte. Er hatte nicht angeboten, den Stuhl zu schieben, wohl wissend, dass er damit den Stolz des Alten verletzt hätte. Aber er hatte bereitgestanden, um jederzeit eingreifen zu können, sollte seine Hilfe nötig werden.
„Du musstest nicht warten, bis du herzitiert wirst“, sagte sie. „Er ist dein Großvater …“
„Genau das ist der Punkt, meine liebe señorita “, fiel Carlos ihr ins Wort. Sein schmales Lächeln und sein lebloser Blick ließen Martha vermuten, dass er ihr damit zeigen wollte, wie wenig ihm entgegen ihrer Annahme an Javier lag. Doch was er dann sagte, schockierte sie erst recht. „Er ist nicht mein Großvater.“
Er fühlte so etwas wie Bedauern, als er bemerkte, wie sie ihn verwirrt ansah. Doch dann fragte er sich, was jetzt wohl hinter ihrer Stirn vorgehen mochte. War sie überrascht? Oder enttäuscht, weil ihr sorgfältig ausgeheckter Plan mit einem Schlag hinfällig geworden war?
Tja, willkommen im Club, dachte er zynisch. Dabei interessierte Javiers Vermögen ihn nicht, er hatte genügend eigenes Geld. Dass er als Javiers Enkel dessen Vermögen geerbt hätte, war unwichtig. Nein, was ihn getroffen hatte, war die Tatsache, dass ihm das Recht genommen worden war, den stolzen Namen Ortega zu tragen. Er hatte seine Familie verloren, sein Geburtsrecht, seinen Stammbaum – alles, was ihn ausgemacht hatte, alles, dem er sich zugehörig gefühlt hatte. Mehr als ein Abstrich mit einem Wattestäbchen in seinem Mund war dazu nicht nötig gewesen.
„Er ist … es nicht?“ Verwirrung und Fassungslosigkeit verdunkelten ihre wunderschönen grauen Augen.
Fast glaubte Carlos, dass sie verstand, was er fühlte. Doch das war unmöglich, schließlich war sie hergekommen, um Javiers Enkel zu finden. Also musste es Enttäuschung sein, nicht Mitgefühl.
Eine Enttäuschung, die ihr Echo in seiner Seele fand. Er wünschte sich die Miss Jones zurück, die nichts weiter von ihm gewusst hatte, für die er schlicht ein Mann gewesen war, dem sie in der englischen Moorlandschaft begegnet war.
„Wir sind nicht verwandt“, sagte er tonlos. „Obwohl ich es immer gedacht habe. Mit der Überzeugung bin ich aufgewachsen. Vor neun Monaten beschloss Javier, sein Testament aufzusetzen, wahrscheinlich fühlte er, dass das Alter ihm zu schaffen macht. Sein Anwalt bestand darauf, alles genau nach Vorschrift abzuwickeln. Der Anwalt hat abuelo die Idee in den Kopf gesetzt, den Beweis zu erbringen, dass sein Enkel auch wirklich sein Enkel ist.“
„Aber was ist mit deinen Eltern?“
„Der Mann, den ich für meinen Vater hielt, Javiers einziger Sohn, kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, als ich neun war. Meine Eltern hatten sich jedoch schon vorher getrennt. Meine Mutter ließ mich auf El Cielo zurück, es war ihre Entscheidung. Und sie wollte, dass ich eine enge Beziehung zu dem alten Mann aufbaue, damit ich ihn eines Tages beerbe.“
Wann und warum war sie näher gekommen? So nah, dass er Mühe hatte, seine Gedanken zusammenzuhalten. Die Träger des dunkelblauen Einteilers kontrastierten stark mit ihrer gebräunten Haut, von der Brust bis zu den Hüften war sie eingewickelt in ein weißes Frotteetuch, doch der Blick auf wohlgeformte bloße Beine und schlanke Fesseln war frei. Zartrosa Nagellack schimmerte auf ihren Fußnägeln. Das letzte Mal, als Carlos ihre Füße gesehen hatte, waren sie mit Schlamm und Straßenschmutz bespritzt gewesen.
Mit dem vom Schwimmen feuchten Haar erinnerte sie ihn an die Frau, die er an einem kalten Aprilabend in ein Hotelzimmer getragen hatte, und plötzlich durchfuhr ihn heiße Lust. Er war froh darum, dass er sein eigenes Handtuch noch in der Hand hielt, so konnte er die instinktive Reaktion seines Körpers bedecken. Offensichtlich tat ihm die Sonne nicht gut. Mit niemandem hatte er seine Familiensituation besprochen, seit seine Welt um ihn herum zusammengebrochen war.
„Also haben sie einen DNA-Test
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