Julia Extra Band 366
anderen Umständen energisch protestiert hätte, schob Ramon sie vorwärts. Sie verbarg ihre Furcht hinter einem gekünstelten Lächeln. „Guten Abend“, murmelte sie und ignorierte die innere Stimme, die ihr riet, wegzulaufen.
Santiago beugte sich zu ihr hinunter – etwas, was einer Frau nicht oft passierte, die barfuß einen Meter achtundsiebzig groß war – und legte ihr die Hände auf die Schultern. Lucy keuchte leise, als sie seine Lippen flüchtig auf ihrer Wange spürte. Ein Beben durchlief ihren Körper.
Und Santiago, der es spürte, lächelte spöttisch. „Großartige Arbeit“, sagte er bewundernd. „Aber das Kleid ist vielleicht nicht erste Wahl. Es ist ein bisschen zu … deutlich. Die heisere, sexy Stimme ist eine hübsche besondere Note, mir gefällt es …“
„Was? Heiser, sexy? Ich habe nicht …“ Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich Lucy an ihre Rolle als herzlose Geliebte. Schnell zauberte sie ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht. „Nach meinen Erfahrungen …“
„Zweifellos sehr viele.“ Santiago nahm einen Hauch ihres Parfüms wahr. Es war ein leichter, blumiger und überaus femininer Duft.
„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele.“
Eine scherzhafte Bemerkung ihres Anwalts fiel ihr wieder ein: „Wir können Ihren Namen vor Gericht nur reinwaschen, wenn wir ein ärztliches Attest vorlegen, das beweist, dass Sie noch Jungfrau sind.“
Dass sein Witz der Wahrheit sehr nahe kam, hatte er nicht geahnt.
„Nach meinen Erfahrungen gibt es in Bezug auf Männer ‚zu deutlich‘ nicht. Und wenn Sie meinen, das eben sei sexy gewesen, dann passen Sie mal gut auf“, hauchte sie vielsagend und sah zufrieden, dass er verärgert die Lippen zusammenpresste.
Sie ignorierte die innere Stimme, die sie davor warnte, mit dem Feuer zu spielen. Anstatt die Spannung aus der Situation zu nehmen, heizte Lucy die Atmosphäre zwischen ihnen weiter auf, indem sie Santiagos wütenden Blick mit einem langsamen, triumphierenden Lächeln erwiderte.
Daraufhin umfasste er fest ihren Arm, aber die Genugtuung, dass sie auf den harten Griff reagierte, wollte sie ihm nicht verschaffen. Mit Ramon auf der anderen Seite neben ihr, lotste Santiago sie zu der geschwungenen Schlosstreppe.
Lucy kam sich nicht geführt, sondern eher abgeführt vor. So graziös, wie sie konnte, hob sie das knöchellange Kleid an und machte den ersten Schritt nach oben.
4. KAPITEL
Die große Tür wurde weiter aufgezogen, und eine Gestalt erschien oben an der Treppe. Im ersten Moment dachte Lucy, es wäre ein Kind. Dann trat die Gestalt in den Lichtkegel eines der Spots, und Lucy erkannte, dass es eine junge Frau war.
Sie war zierlich und gertenschlank und trug einen langen schwarzen Seidenpullover zu schwarzen Leggings. Ein Look, den sich nur wenige leisten konnten, aber diese junge Frau hatte die Figur dafür!
Ramon schob sich an Lucy vorbei. „Carmella!“
Während Lucy zusah, wie sich die beiden umarmten, war sie sich bewusst, dass Santiago sie scharf beobachtete. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen – soweit das möglich war, wenn doch ihr Körper wie unter Strom stand vor Feindseligkeit und Erregung. Der schreckliche Mann machte sie ganz nervös.
Vermutlich hatte er das grazile Geschöpf als Konkurrentin eingeladen. Zweifellos war diese Carmella völlig anders als sie, umso mehr, weil sie flache Schuhe trug und Lucy Stilettos mit acht Zentimeter hohen Absätzen!
Sie fühlte sich groß, drall und schwerfällig, sobald sie auf gleicher Höhe mit der zarten jungen Frau war, die ganz verwirrt zu sein schien, als sie sich aus Ramons Umarmung löste.
„Lucy, das ist Carmella. Sie ist für mich wie die kleine Schwester, die ich nicht habe. Was tust du denn hier, Melly?“
Verlegen blickte sie Santiago an, der ruhig sagte: „Muss es einen Grund geben?“
Noch immer hatte er die Hand auf ihrem Arm. Lucy trat ihm mit ihrem acht Zentimeter hohen spitzen Absatz auf den Fuß. „Oh, entschuldigen Sie vielmals!“ Es musste wehgetan haben, aber abgesehen von einem kaum hörbaren Ächzen hatte Santiago sich nichts anmerken lassen.
Er akzeptierte ihre Entschuldigung mit einem Nicken und einem grimmigen Lächeln, das Vergeltung versprach.
Nicht Angst, sondern eine prickelnde Erregung durchlief sie. „Ich bin ja so ungeschickt“, flötete sie.
Ungeschickt! Santiago atmete scharf ein. Jede ihrer Bewegungen war geschmeidig, sinnlich, verführerisch und anmutig. Ja, Lucy Fitzgerald verkörperte alles,
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