Julia Extra Band 366
Bedürfnis zu, alles in der Hand zu haben. Er war ein Kontrollfreak.
„Warum wusste ich das nicht?“
Ja, ein Kontrollfreak!
„Und warum hat Anton mich nicht informiert?“
Lucy hatte keine Ahnung, wer Anton war, dennoch hatte er ihr Mitgefühl. Bei Santiago Silva angestellt zu sein musste sein, als würde man für einen Feudalherrn arbeiten. Einen sehr gut aussehenden Feudalherr, musste sie einräumen, während sie seinen schlanken, durchtrainierten Körper musterte.
„Ist sie im Krankenhaus?“ Sein Verwalter kümmerte sich um alle täglich anfallenden Aufgaben auf dem Gut, aber Santiago war kein Grundbesitzer, den niemand zu Gesicht bekam. Er kannte alle seine Pächter und beteiligte sich aktiv am Dorfleben, wie sein Vater es getan hatte. Santiago nahm die Verantwortung ernst, die zu seiner Rolle hier gehörte.
Die ersten Jahre waren nicht leicht gewesen. Während er noch um seinen Vater getrauert hatte, war von ihm erwartet worden, dass er dessen Stelle einnahm. Damals hatte er mit Magdalena in der Großstadt gewohnt. Sie hatte ihn wirklich unterstützt, und für ihn war es ganz normal gewesen, sie zu bitten, mit ihm zusammen ins Schloss zu ziehen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Magdalena ihm einen Heiratsantrag machen würde. Irgendwann heiraten wir ohnehin, also warum nicht jetzt? hatte Santiago nach dem ersten Schock gedacht.
Jetzt war ihm klar, dass es sehr wahrscheinlich nie dazu gekommen wäre, dass sie geheiratet hätten. Sie hätten sich nämlich schließlich auseinandergelebt.
„Harriet war nur für einen Tag im Krankenhaus. Und gib nicht Anton die Schuld. Als er zur Hochzeit seines Cousins gefahren ist, habe ich zu ihm gesagt, ich würde es dir bei deiner Rückkehr erzählen“, gestand Ramon. „Aber es ist nichts passiert“, fügte er fröhlich hinzu. „Lucy hilft Harriet, bis sie wieder gesund ist.“
Santiago blickte die Frau an, die neben ihm saß. Glaubte sein Bruder im Ernst, dass sie irgendetwas machen würde, bei dem sie sich den Nagellack abstoßen könnte? Sein höhnisches Lächeln erstarb, als Santiago ihre Hände betrachtete. Die Nägel waren kurz geschnitten und nicht lackiert. Kopfschüttelnd tat er die Ungereimtheit ab. Lucy Fitzgerald war für körperliche Arbeit nicht geschaffen.
„Bei ihr ist Harriet in guten Händen“, sagte Ramon.
„Ich bezweifle sehr, dass Miss Fitzgerald …“
„Oh, wie förmlich. Bitte nennen Sie mich Lucy.“ Sie lächelte weiter zuckersüß, obwohl ihr inzwischen die Gesichtsmuskeln schmerzten.
Santiago, der ihr ganz andere Namen gegeben hätte, erwiderte das Lächeln.
Ihre Blicke begegneten sich. Lucy war fest entschlossen, nicht als Erste wegzusehen. Im Hintergrund hörte sie Ramon und Carmella lachen und plaudern. Viel lauter war das Blut, das ihr in den Ohren rauschte.
Auf der anderen Seite des Tisches warf Ramon ein Glas um. Es klang wie ein Pistolenschuss, als das Kristall auf dem Boden aufschlug. Wer von ihnen beiden zuerst wegschaute, war schwer zu sagen. Für Lucy war nur noch wichtig, dass das kleine Missgeschick die wachsende Spannung zwischen Santiago und ihr hatte abklingen lassen.
„Sprecht englisch …“, hörte sie ihn das junge Paar tadeln. „Miss Fitzgerald wird sich ausgeschlossen fühlen.“
Als würde es nicht genau darum gehen. „Kein Problem“, sagte sie auf Spanisch. „Ich muss üben.“
Er wirkte verärgert. „Sie können Spanisch?“
Vermutlich war er irritiert, weil in seiner Welt Habgier die einzige Sprache war, die ein blondes Flittchen verstehen durfte. Deshalb antwortete sie auf Englisch. „Ein bisschen.“
„Mehr als ein bisschen. Außerdem spricht sie Französisch, Italienisch, Deutsch und … Gälisch?“, warf Ramon ein.
Lucy nickte.
„Nicht nur ein schönes Gesicht und ein perfekter Körper“, fuhr Ramon fort, die Augen auf ihre Brüste geheftet. „Sie hat auch Köpfchen. Ich weiß eben, wie man sie aussucht, stimmt’s?“ Er lächelte seinen Bruder sonnig an, bevor er von seinem Stuhl aufstand. Das Hausmädchen war hereingekommen, um die Scherben des zerbrochenen Glases zu beseitigen.
„Sehr sprachbegabt.“
„Meine Familie ist über die ganze Welt verstreut, deshalb kann ich so viele Sprachen. Aber Ramon will nur nett sein. Mein Spanisch ist ziemlich dürftig“, gab Lucy zu, bevor ihr einfiel, dass ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und ehrlich zu sein nicht zu ihrer Rolle passte. Also rettete Lucy die Situation. „Ich hoffe, dass sich mein Wortschatz während
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