Julia Extra Band 366
Erleichterung war es keine Halluzination. Es sei denn, Halluzinationen sprachen und trugen Zahnspangen.
Erstaunt erblickte Lucy das elfenhafte Gesicht von Gabby vor sich. „Danke.“ Vorsichtig stützte sie sich auf den Ellbogen und schaute sich neugierig um. Als Santiago sie am Vortag in dieses Zimmer getragen und dem Arzt und den beiden Frauen überlassen hatte, war sie an ihrer Umgebung nicht allzu interessiert gewesen.
Eine von ihnen sprach perfekt Englisch, die andere war die junge Frau mit der Schnittwunde an der Hand. Beide waren sehr nett gewesen, aber sie hatten Lucy während der Nacht abwechselnd immer wieder geweckt. Auf Anweisung des Arztes hatten sie darauf geachtet, dass die Symptome ihrer leichten Gehirnerschütterung nicht schlimmer wurden.
„Ich dachte, du seist im Internat.“
„Ich bin weggelaufen.“
Lucy hatte tatsächlich fast Mitleid mit Santiago. „Wie spät ist es?“ Sie lag in einem riesengroßen Himmelbett, das sich zwischen den anderen wuchtigen Möbeln verlor, die wie Museumsstücke wirkten. An den Wänden hingen Gobelins und Porträts historischer Persönlichkeiten. Gartenblumen in einer funkelnden Kupferschale, die in dem leeren Kamin stand, erfüllten das Zimmer mit ihrem Duft und heiterten die düstere Atmosphäre auf.
„Zwei Uhr.“
Lucy mühte sich ab, den Blick von dem Porträt einer Frau mit scharf geschnittenen Gesichtszügen loszureißen. Ihre Augen wirkten unheimlich vertraut, vermutlich war sie eine Vorfahrin des jetzigen Schlossbesitzers. Hochmut schien eine Generationen überdauernde Eigenschaft der Silvas zu sein. Lucy gähnte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zu.
„Onkel Ramon ist auch krank. Er hat zum Frühstück verdorbenen Lachs gegessen.“
Ihr fiel ein, wie schnell Ramon am Morgen aus dem Stall verschwunden war. Also deshalb war er nicht zurückgekommen!
„Er ist wirklich schlimm dran. Er musste ins Krankenhaus.“
„Ins Krankenhaus?“, rief Lucy besorgt.
Gabby nickte. „ Papá sagt, es geschieht ihm recht, weil er sich heimlich den Räucherlachs aus der Küche geholt hat. Den wollte die Köchin in den Müll werfen.“ Das kleine Mädchen setzte sich auf die Brokattagesdecke.
Erst jetzt bemerkte Lucy, dass sie ein weißes Nachthemd aus feinem, besticktem Stoff im viktorianischen Stil trug. Sie erinnerte sich nur vage daran, dass ihr jemand geholfen hatte, es anzuziehen. Aber sie war fast sicher, dass Santiago nichts damit zu tun gehabt hatte.
Sie runzelte die Stirn. Irgendwann in der Nacht hatte sie eine tiefe männliche Stimme gehört und kühle Finger an ihrer Wange gespürt. Vielleicht hatte sie es auch nur geträumt.
Als sie aufsah, stellte sie fest, dass das Kind sie beobachtete. Santiagos Tochter war ein hübsches kleines Ding mit großen dunklen Augen. Ihre Lippen hatten die klassische Bogenform, und sie hatte Grübchen in den Wangen. Sah sie wie ihre verstorbene Mutter aus?
„Das Nachthemd ist meins. Ein Geschenk von Tante Seraphina. Grässlich, oder? Sie kauft mir immer Sachen, die zu groß sind, damit ich hineinwachse. Aber ich tue es nie.“ Gabby seufzte. „ Papá sagt, es ist gut, zierlich zu sein. Na ja, was versteht er schon davon? Er ist ein Mann und zwei Meter groß … Wie Sie“, fügte sie neidisch hinzu. „Ist Ihr Haar echt? Keine Extensions? Ich möchte mein Haar blond färben, aber Papá würde mich umbringen. Das ist es vielleicht wert. Und vielleicht werfen sie mich dann aus dem Internat.“ Sie fing Lucys fragenden Blick auf. „Ich hasse die Schule!“
„Das ist alles mein eigenes Haar.“ Lucy griff nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch und trank einen Schluck. „Und dein Papá hat recht. Ich habe mir früher immer gewünscht, ich wäre zierlich.“ Weil es nie schön war, anders zu sein, und in Gabbys Alter hatte sie alle ihre Altersgenossinnen überragt.
„ Papá hat recht? Kann ich das schriftlich haben?“, fragte eine Männerstimme im Hintergrund.
Lucy goss vor Schreck Wasser auf das geliehene Nachthemd und blickte zur Tür. In Jeans und einem weißen T-Shirt, das Haar feucht – offenbar hatte er gerade geduscht –, strahlte Santiago rastlose Vitalität aus.
Außerdem sah er sündhaft gut aus, und Lucy hatte nicht die Energie und ein Mal keine Lust, sich wieder einzureden, dass er sexy, aber nicht ihr Typ war. Sie fühlte sich hoffnungslos zu ihm hingezogen. Nur in sexueller Hinsicht, sagte sie sich und dachte lieber nicht über die Gefühle nach, die ihr das Herz schwer
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