Julia Extra Band 366
nichts? Schließlich konnte sie das spannungsgeladene Schweigen nicht länger ertragen. „Ich habe Grasflecke auf meiner Bluse.“
„Grasflecke“, stieß Santiago wütend hervor. Er ging neben Lucy in die Hocke, widerstand aber dem zwanghaften Wunsch, tröstend ihre Hand zu halten. Die Frau brauchte keinen Trost, sie musste eine Therapie machen.
Sie musste geküsst werden.
„Wenn du nichts Vernünftiges sagen kannst, dann halt den Mund! Das Ding …“, Santiago zeigte auf den Reithelm, „… hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet. Du hast Glück gehabt.“ Magdalena nicht. Er starrte zu Boden, um seine Verzweiflung zu verbergen, als vor seinem geistigen Auge wieder die grausamen Bilder abliefen.
Lucy unterdrückte ein Schluchzen. „Dramatisier nicht“, murmelte sie.
Das ließ ihn ruckartig den Kopf heben. „Wenn du etwas Dramatisches erleben willst …“
Ihre Blicke begegneten sich, und Santiago verlor den Faden. Sie wirkte ein bisschen benommen. Obwohl sie sich tough gab, sah sie erschöpft aus, hilflos und verletzlich. Himmelweit von der Verführerin entfernt, vor der sein Bruder gerettet werden musste.
Während sie mühsam ein- und ausatmete, versuchte Lucy, unauffällig ein Stück abzurücken von dem Mann, der neben ihr hockte. Wie immer strahlte er Eleganz und guten Geschmack aus, überlagert von einer urwüchsigen sexuellen Ausstrahlung, die es nebensächlich machte, was er anhatte. Heute war es ein hellgrauer Anzug mit einem weißen Hemd und einer grauen Seidenkrawatte – eher fürs Büro als fürs Reiten geeignet.
„Du solltest dich nicht bewegen. Der Ratschlag muss ja nicht falsch sein, nur weil ich ihn dir gebe, Lucy.“
Zu ihrem Entsetzen stiegen ihr Tränen in die Augen. Gegen seine Beleidigungen war sie immun, aber sein unerwartet freundlicher Ton machte sie wehrlos.
Sie durfte nicht weinen. Ihre Tränen wären noch etwas, worüber er verächtlich die Nase rümpfen konnte. Lucy biss sich auf die Lippe und hob bittend die Hand. „Ich brauche bloß einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen.“
Santiago wollte widersprechen, dann unterließ er es und nickte. Geschmeidig stand er auf und ging ein Stück weg. Er musste unbedingt Abstand zwischen ihnen beiden herstellen. Er holte sein Handy heraus und tippte eine Nummer ein. Die Frau war erstaunlich. In Anbetracht der Umstände hatte er sich bewundernswert zurückgehalten. Dennoch schaffte sie es, ihm mit einem Blick das Gefühl zu geben, dass er ein Tyrann war und eine unschuldige junge Frau eingeschüchtert hatte.
Aus den Augenwinkeln sah Lucy ihn auf und ab gehen, während er kurz in sein Handy sprach. Als er zurückkam und sich neben sie auf den Boden setzte, hatte sich ihre Atmung normalisiert. Und, wichtiger, sie war nicht mehr den Tränen nahe.
„Besser?“, fragte er schroff.
Sie nickte. Verdammt, reiß dich zusammen, Lucy! befahl sie sich.
„Dein Bein.“ Erst jetzt sah Santiago, dass am rechten Bein die Reithose vom Oberschenkel bis zum Knöchel zerrissen war.
Seine Fingerspitzen streiften gerade noch ihre Wade, bevor sie das Bein unter sich zog. „Das ist nichts, ich habe mir nur die Haut aufgeschürft.“ Lucy konzentrierte sich auf den Schmerz in ihrer Wade, um nicht darüber nachzudenken, wie sehr sie sich gewünscht hatte, dass Santiago sie berührte.
Vielleicht war sie doch mit dem Kopf aufgeschlagen?
Freitagabend war es das Glas Wein gewesen. Jedenfalls hatte sie sich das in der schlaflosen Nacht versucht einzureden. Und jetzt war es eine Kopfverletzung. Was für eine Entschuldigung würde sie wohl haben, wenn sie sich das nächste Mal nach der Berührung dieses Mannes sehnte?
Es wird kein nächstes Mal geben.
Spöttisch zog er die Augenbrauen hoch. „Wenn du meinst.“ Der Arzt könnte anderer Ansicht sein. Santiago blickte den Waldweg entlang und runzelte die Stirn. Wo blieb der Arzt?
„Ja, das meine ich“, sagte Lucy energisch.
Als Santiago in Gedanken das Telefongespräch durchging, fiel ihm auf, wie seltsam Ramon auf seine Bitte reagiert hatte, einen Arzt kommen zu lassen.
„Gute Idee“, hatte sein Halbbruder gesagt, ohne zu fragen, warum oder für wen.
Lucy warf ihm vorsichtig einen Blick zu. Sie wusste, dass Santiago nur vorübergehend weniger feindselig war. Selbst wenn sie nicht auf seinem Lieblingspferd losgeritten wäre, würde er weiter abfällige Bemerkungen machen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?
„Ist Santana nach Hause gelaufen?“, fragte sie kleinlaut.
Ruckartig
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