Julia Extra Band 369
jahrelang vernachlässigt. Doch das Schlimmste war, dass sie nicht bei ihrem Bruder gewesen war. Ja, sie hatte ihm Geld geschickt und seine Rechnungen beglichen, aber schlussendlich hatte sie sich für die Arbeit entschieden. Vielleicht weil das leichter gewesen war, als Dominic beim Sterben zuzusehen …
Und all das für einen Mann, der ihre Gefühle niemals erwidern würde. Für einen Mann, der höchstwahrscheinlich nicht einmal wusste, was Liebe überhaupt war.
Doch kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende geführt, meldete sich eine selbstkritische Stimme in ihrem Inneren. Woher weiß ich eigentlich, was Liebe ist?
Die Welt um sie herum schien auf einmal zu schwanken, und eine brennende Scham stieg in ihr auf. Scham darüber, dass sie sich noch immer nach der Liebe ihrer selbstsüchtigen Mutter sehnte. Scham, weil sie sich gewünscht hatte, dass all diese Stiefväter sie wie eine Tochter lieben würden. Scham, weil sie gehofft hatte, dass ihr Bruder sie mehr lieben würde als seine Sucht.
So traurig und ernüchternd es war, aber ihr komplettes Leben war geprägt von unerfüllter Liebe, erkannte sie plötzlich.
Wie konnte ich nur so naiv sein!
Und wie er sie jetzt ansah, noch immer mit diesem umwerfenden Lächeln im Gesicht, das ihn noch strahlender, noch attraktiver machte, als er es ohnehin schon war.
Dru spürte, wie auch der Rest ihres Herzens zerbrach.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er und musterte sie aufmerksam. Dabei schien er bis auf den Grund ihrer Seele blicken zu können. Doch er durfte die schreckliche Wahrheit nie erfahren.
„Ja, alles gut“, brachte sie hervor. Doch das Zittern in ihrer Stimme strafte ihre Worte Lügen. Cayo runzelte die Stirn, und schnell deutete Dru auf ihren Mund und log. „Ich … ich habe mir auf die Zunge gebissen. Das ist alles.“
Selbst ein so mächtiger Mann wie Cayo, stellte sich heraus, konnte die Zeit nicht aufhalten.
Es war ihr letzter Abend auf der Insel – und obwohl sie nicht darüber sprachen, hing diese Tatsache zwischen ihnen wie ein lauernder Schatten. Da half es auch nichts, dass sie sich die ganze Nacht hindurch geliebt hatten, als würde es kein Morgen geben.
Cayo fiel es schwer, sich auf die laufende Telefonkonferenz zu konzentrieren, die Dru gerade führte. Keiner ihrer Gesprächspartner wusste, dass Cayo auch im Büro war und zuhörte. Er saß still neben ihr, die Beine vor sich ausgestreckt, und beobachtete Dru dabei, wie sie in das Konferenztelefon sprach, das vor ihnen auf dem Schreibtisch stand.
„Ich bin mir sicher, dass sich Mr Vila dafür interessieren wird.“ Allein der Klang ihrer Stimme führte dazu, dass er wieder dieses sehnsüchtige Ziehen in sich spürte. „Aber bevor wir eine Entscheidung fällen, sollten wir uns noch einmal den Zahlen zuwenden.“
Cayo gefiel die Vorstellung, dass alle das Bild der alten Dru vor Augen hatten: streng frisiert, dezent geschminkt und unauffällig gekleidet. Dabei sah sie in Wirklichkeit aufregend anders aus. Ihr Haar fiel in weichen Wellen um ihre Schultern, ihre Haut schimmerte beinahe golden, sie war barfuß, trug einen knappen purpurroten Bikini und um die Hüfte einen türkisfarbenen Sarong.
Sie ist großartig. Sie gehört mir. Und bald wird sie mich verlassen.
Cayo wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Er wusste nur, dass er sie nicht verlieren wollte. Niemals.
Was sollte er bloß tun?
Dru stützte ihren Kopf mit einer Hand auf den Tisch und lauschte, wie sich die Manager untereinander eine verbale Auseinandersetzung lieferten. Cayo lächelte, denn sie hatte es wieder einmal geschafft, seinen Angestellten Wahrheiten zu entlocken, die sie ihm wahrscheinlich nie erzählt hätten.
Nun mischte sich Dru wieder in das Gespräch. „Ich bin mir sicher, dass Mr Vila Ihnen eine ähnliche Antwort geben wird. Vermutlich wird sie jedoch weniger höflich klingen.“
Aus dem Telefon drang herzhaftes Gelächter und Dru zwinkerte ihm fröhlich zu. Doch selbst jetzt wurde Cayo das Gefühl nicht los, dass sie noch immer irgendetwas vor ihm verbarg. Er konnte es ihren Augen ansehen.
Und das führte auf unerhörte Weise dazu, dass er sie umso mehr wollte.
Sie war die einzige Person, der er voll und ganz vertraute. Privat und geschäftlich. Noch nie war ihm jemand so nahe gewesen. Er hatte Dru in sämtliche Bereiche seines Lebens eindringen lassen.
Doch nun war seine Zeit mit ihr fast abgelaufen.
Er gab dem inneren Drang nach, sie zu berühren, und nahm ihre Hand. Ihr Blick flog
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