Julia Extra Band 373
Mutter war es wohl leichter gewesen, den Geburtstag ihrer Jüngsten zu ignorieren. Man hat mich als Kind vernachlässigt, dachte Ava. Im Gegensatz zu ihren älteren Schwestern hatte sie nie genug zu essen gehabt und war schlecht gekleidet gewesen. Während die beiden älteren Mädchen sich immer öfter bei Klassenkameradinnen aufgehalten hatten, war die kleine Ava einer betrunkenen Mutter ausgesetzt gewesen.
Da Ava sich den Geburtstag nicht durch quälende Erinnerungen verderben wollte, griff sie zu Messer und Gabel und ließ sich die köstlichen Pfannkuchen schmecken. Das kleine Schmuckkästchen neben dem Teller ignorierte sie, weil sie lieber nicht wissen wollte, welche Überraschung Vito sich noch für sie ausgedacht hatte.
„Willst du es nicht öffnen?“, fragte er schließlich.
„Es ist mir peinlich, dass du so viel Geld für mich ausgibst.“
„Dieses Geschenk hat mich keinen Penny gekostet.“
Avas Neugierde war geweckt. Sie kam Vitos Aufforderung nach und musste erst mal schlucken, als sie Ollys goldenen Talisman entdeckte: der heilige Christophorus! „Den kannst du mir nicht schenken!“
Vito sprang auf, griff nach dem Schmuckstück, schob Avas Haar beiseite und legte ihr die Kette um den Hals. „Nun hast du ein Erinnerungsstück an ihn, cara mia .“
„Danke.“ Ergriffen tastete sie nach dem Anhänger. Das konnte doch nur bedeuten, dass Vito ihr vergeben hatte, oder? Er hatte sich daran erinnert, wie eng sie und Olly befreundet gewesen waren. Allein dafür war sie ihm unendlich dankbar.
„Der Talisman gehörte unserem Vater. Olly wollte ihn unbedingt haben.“ Vito räusperte sich. „So, nun komm, es wird Zeit, den Baum auszusuchen.“
Ava fasste sich und folgte Vito und Harvey zum Geländewagen. Auf unbefestigten Wegen ging es zum Waldgebiet, das ebenfalls zum Anwesen gehörte. Vito stellte den Wagen ab, Ava griff nach Farbeimer und Pinsel. Mit der weißen Farbe wollte sie den ausgewählten Baum markieren, damit die Waldarbeiter wussten, welche Tanne sie fällen sollten. Ein eisiger Wind blies ihr ins Gesicht. Suchend tastete sie nach dem heiligen Christophorus, dem Schutzheiligen der Reisenden. In der Unglücksnacht hatte Olly den Talisman nicht getragen, weil die Kette gerissen war.
Energisch verdrängte Ava die Erinnerungen und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Vor einer etwa fünf Meter hohen Tanne mit hübsch geschwungenen, fast bis zum Boden reichenden Zweigen blieb sie stehen. „Die ist perfekt.“
Vito markierte den Stamm und steckte die eiskalten Hände schnell wieder in die Jackentaschen. „Das ging ja schnell.“
„Ja, nicht wahr?“ Sie stutzte und rief begeistert: „Es schneit!“ Ausgelassen lief sie über die Lichtung und versuchte, Schneeflocken zu fangen. Wie ein unschuldiges Kind tanzte sie lachend und völlig selbstvergessen unter den taumelnden Flocken umher.
Vito beobachtete sie fasziniert und fragte sich, wieso ein so entzückendes Wesen von seiner Familie verstoßen worden war. Vielleicht wurde es Zeit, das herauszufinden. „Du könntest jetzt eigentlich deine Familie besuchen“, schlug er daher vor.
Ava verharrte mitten in der Bewegung. „Habe ich schon.“ Die schöne Stimmung war verflogen. Ava bückte sich nach dem Farbeimer und kehrte zurück zum Wagen.
„Wann warst du denn da?“, fragte Vito erstaunt.
„Gestern.“
Vito stutzte. Gestern? Deshalb war sie so verstört gewesen! „Was ist passiert?“
„Ich habe erfahren, dass ich nicht Thomas Fitzgeralds Tochter bin. Ich bin außerehelich gezeugt worden, Vater unbekannt“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Sag das noch mal!“ Vito ließ sich auf den Fahrersitz fallen und sah Ava entsetzt an.
Bedrückt erzählte sie ihm, was sie wusste. „Deshalb haben sie mich auch nicht im Gefängnis besucht“, fügte sie hinzu. „Sie waren froh, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben mussten.“
Vito war außer sich und fluchte auf Italienisch. „Das hätten sie dir schon vor Jahren sagen müssen. Wie kann man nur so grausam sein!“
„Thomas Fitzgerald hatte einfach keine Lust mehr, weiter mit einer Lüge zu leben“, widersprach Ava. „Übrigens geht es dich nichts an, Vito.“
Schweigend kehrten sie zurück zum Schloss. Ava versuchte, die Tränen zurückzuhalten und ärgerte sich darüber, dass Vito nun Bescheid wusste. Hoffentlich kam er jetzt nicht auf die Idee, sie zu bemitleiden. Das könnte sie nicht ertragen.
In der
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