Julia Extra Band 377
des Teamleiters genutzt hatte, um seinen Stellvertreter davon zu überzeugen, die Regeln etwas zu lockern. Dabei war sie nicht einmal vor emotionaler Erpressung und flehenden Blicken zurückgeschreckt.
„Man würde mich also daran hindern, das Gebäude zu verlassen?“
Obwohl sie sich ihm in den Weg stellte, war ihr bewusst, dass er sich von ihr nicht aufhalten lassen würde. Oder wollte er sie nur aufziehen?
Zoe stemmte die Hände in die Hüften, hob das Kinn und widerstand der Versuchung, ihm zu sagen, dass er hier nur über ihre Leiche hinauskam. Vielleicht würde er sie ja beim Wort nehmen … „Auf jeden Fall“, erwiderte sie deshalb ruhig. „Bitte stellen Sie die Miniatur zurück. Sie ist sehr wertvoll.“
„Ja, es war ein echter Glücksgriff.“ Als Isandro beobachtete, wie die Frau verwirrt blinzelte und die Stirn runzelte, verspürte er leichte Gewissensbisse. Sie hatte offenbar große Angst, und es machte ihm keinen Spaß, Frauen Angst einzujagen, obwohl diese hier es wirklich verdiente.
„Ein Glücksgriff?“
Isandro neigte den Kopf. „Diese Lady galt damals als Schönheit. Sie war die Tochter eines reichen Mühlenbesitzers und wurde von ihrem Vater verheiratet. Als Percy“, – mit einem Nicken deutete er auf die andere Miniatur, die immer noch im Regal stand – „sie mit hierher brachte, gab es einen großen Skandal. Anscheinend hat der alte Percy mit den Miniaturen eine Familientradition begründet, aber leider waren die anderen reichen Erbinnen nicht immer so hübsch wie Henrietta.“ Versonnen betrachtete er die Figur und erfreute sich an der meisterhaften Pinselführung des Künstlers und dessen Auge fürs Detail. „Er hat sie wirklich gut getroffen … Ich finde die Miniatur viel besser als die Gemälde über der Treppe. Sie hat einen so sinnlichen Mund.“
Bei den letzten Worten hatte der Fremde den Blick auf Zoes Lippen gerichtet. Sie antwortete nicht sofort, weil ihr das Herz bis zum Hals schlug und sie fieberhaft überlegte, woher dieser Mann so viel über die Geschichte des Hauses und die Familie Reynolds wusste.
„Vielleicht waren die beiden ineinander verliebt?“
Er lachte. „Aha, Sie sind eine Romantikerin.“
Sein spöttischer Unterton verärgerte sie. Warum führte sie überhaupt derartige Gespräche mit einem Kunstdieb? Und war er das überhaupt?
„Nein, das bin ich nicht.“ Wieder hob sie das Kinn. „So, Mr … Ich habe zu tun. Würden Sie jetzt bitte …?“
„Ich frage mich, ob Percy sich ihrer geschämt hat“, fiel der Mann ihr ins Wort. „Sie nennen es Liebe, ich nenne es eine Symbiose.“
Zoe presste die Lippen zusammen. „Ich habe es nur in Betracht gezogen.“
Erneut neigte er den Kopf. „Zweifellos hatte sie Geld, und er war ein angesehener Mann und konnte sie in die Gesellschaft einführen. Aber wenn man ihren Mund betrachtet, haben vielleicht auch andere Faktoren eine Rolle gespielt.“
Mit unergründlicher Miene sah er sie an. „Finden Sie nicht, dass sie einen sinnlichen Mund hat?“
Widerstrebend wandte sie den Blick von seinen Lippen ab.
„Mit Sinnlichkeit kenne ich mich nicht aus.“
„Das ist sicher nur falsche Bescheidenheit.“ Der forschende Ausdruck in seinen Augen bewirkte, dass ihr heiß wurde. „Meiner Meinung nach war unsere Henrietta eine sehr leidenschaftliche Frau … und vielleicht konnte Percy sich deswegen glücklich schätzen. Aber das werden wir wohl nie erfahren. Wir wissen allerdings, dass die Familie, als es keine reichen Erbinnen aus der Mittelschicht mehr gab, alle Wertgegenstände und Ländereien verkaufen musste, bis sie nichts mehr besaß. Dieses Paar wieder dort zu sehen, wo es begonnen hat, vermittelt eine gewisse Beständigkeit.“
„Das ist sehr interessant, aber …“ Abrupt verstummte Zoe und spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Das Auftreten dieses Mannes, sein Akzent, die Selbstverständlichkeit, mit der er sich hier bewegte … Natürlich hatte er sich verhalten, als würde ihm das Haus gehören, denn so war es tatsächlich!
Wie hatte sie nur so blind sein können? Weil er nicht ihren Vorstellungen entsprach. Hätte sie das Arbeitszimmer betreten und einen kleinen Mann mit Glatze in einem teuren Anzug angetroffen, hätte sie sofort die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er ihr Arbeitgeber war.
Peinlich berührt schloss Zoe die Augen. Kein Wunder, dass die Pferdepflegerin, die ihr den Artikel in dem Gesellschaftsmagazin gezeigt hatte, sie seltsam angesehen hatte, als sie
Weitere Kostenlose Bücher