Julia Festival 94
leid, aber ich konnte nicht bleiben. Ione.“
Kein Erpresserbrief mit Geldforderungen … ein Brief von Ione! Alexio blickte ihn starr an und versuchte, irgendeinen Sinn in den kurzen Satz zu bringen. Dann, wie mit einem Schlag, geriet er in Bewegung und war unten, als Tipo gerade das Haus verlassen wollte.
„Was geht hier eigentlich vor?“, fragte er ratlos.
„Wir regeln das auf unsere Art“, antwortete Tipo. „Sie sollten Mr. Gakis anrufen.“
Alexio hätte am liebsten laut geflucht, aber dafür war die Zeit zu kostbar. Seine Frau hatte ihn am Abend des Hochzeitstags verlassen. Warum? Iones blasses, verschrecktes Gesicht tauchte vor ihm auf. Den ganzen Tag über war sie ein Nervenbündel gewesen und hatte offenbar weit mehr gelitten, als er hatte wahrhaben wollen.
Tipo räusperte sich. „Ich habe bereits mit Mr. Gakis gesprochen. Er möchte, dass wir seine Tochter auf die Insel bringen, wo er auf sie aufpassen kann.“
Alexios Ratlosigkeit verwandelte sich in helle Wut. „Meine Frau ist eine Christoulakis!“, herrschte er Tipo an. „Ich allein kümmere mich um sie.“
Drei Minuten später saß er in seinem Sportwagen. Er wollte vor Tipo und seinen Schlägern am Flughafen sein und benutzte jede Abkürzung, die er kannte. Er konnte immer noch nicht fassen, dass Ione ihn verlassen hatte, bevor die Tinte auf ihrer Heiratsurkunde getrocknet war. Sie hatte Angst gehabt, ja, aber wovor? Vor ihm? Er wollte höhnisch auflachen, aber das Lachen erstarb ihm in der Kehle, als er daran dachte, dass sie heute schon einmal vor ihm weggelaufen war.
In Alexios Vorstellung waren scheue Jungfrauen mit fußlangen Röcken und auf der Klavierbank zusammengepressten Schenkeln längst ausgestorben, aber Ione hatte eine ungewöhnliche Erziehung genossen, durch die ihr seltsames Verhalten vielleicht verständlich wurde.
Aber es gab noch eine andere Erklärung. Vielleicht war Ione gar nicht so unerfahren, wie er hatte glauben sollen. Dann war sie geflohen, weil sie den Sturm fürchtete, der bei dieser Entdeckung losbrechen musste. Wieder kam ihm Yannis, der Sohn des Fischers, in den Sinn, und dabei nahm Alexios Gesicht einen harten, unversöhnlichen Ausdruck an. Warum sollte er sich etwas vormachen? Diese zweite Möglichkeit lieferte eine weitaus bessere Erklärung für Iones Flucht.
Alexio sah starr geradeaus. Das erste gemeinsame Dinner fiel ihm ein, bei dem Ione vor der erhobenen Faust ihres Vaters gezittert hatte. Zitterte sie jetzt vor ihm, weil sie nicht mehr Jungfrau war und seine Reaktion fürchtete? Hatte am Ende diese Furcht zu ihrer Flucht geführt? Alexio konnte die Möglichkeit immer weniger ausschließen. Wie hätte sie auch wissen sollen, dass er nicht wie ihr Vater war?
Obwohl es Ione gelungen war, den Flughafen zu erreichen und ihr vorbestelltes Ticket zu bekommen, wuchsen ihre Zweifel und ihre Niedergeschlagenheit von Minute zu Minute.
Der Abflug nach London verspätete sich. Sie hätte durch die Sperre gehen und im Transitraum ungestört warten können, aber irgendetwas hielt sie davon ab, diesen entscheidenden Schritt zu tun. Sie hatte gehofft, an einem anonymen Ort wie dem Flughafen in der Menge unterzugehen, aber es kam ihr so vor, als würde sie von allen Menschen angestarrt. Wirkte sie irgendwie auffällig? Sah man ihr an, dass sie nervös und unglücklich war und vielleicht Hilfe brauchte?
Unsinn! Sollten die Leute denken, was sie wollten. In wenigen Stunden würde sie in England sein, in der Nähe ihrer Schwester. Aber leider gab ihr auch der Gedanke an Misty nicht so viel Trost, wie sie gehofft hatte.
Was Alexio wohl von ihr dachte? Das war der einzige Punkt, der Ione wirklich beschäftigte: Was er von ihr dachte und was er jetzt fühlte. Er musste ihre Flucht inzwischen bemerkt haben und suchte sicher vergeblich nach einem Grund dafür. Wie sollte er sie auch verstehen? Wahrscheinlich hielt er sie einfach für verrückt.
Ob er sehr verletzt war? In seinem männlichen Stolz, gewiss. Er musste den Tag verfluchen, an dem er ihr begegnet war und damit so viel Schande für sich und seine Familie heraufbeschworen hatte.
Alexio durchstreifte das Flughafengebäude wie ein erfahrener Agent. Zuerst kontrollierte er die Abfluganzeige. In zwei Stunden startete eine Maschine nach Athen, aber würde Ione zu ihrem tobenden Vater zurückkehren? Sicher nicht. Welches andere Ziel kam dann infrage? Ione hatte niemanden zu der Hochzeit eingeladen, zu dem sie sich notfalls flüchten konnte.
Plötzlich fiel
Weitere Kostenlose Bücher