Julia Festival 94
Heirat mit ihr nur noch mächtiger wurde. Er galt schon jetzt als so gerissen und skrupellos, dass es sogar ihren Vater beeindruckt hatte. Er würde in seinem Privatleben kaum weniger skrupellos sein.
Wie sollte es ihr gelingen, ihn für längere Zeit zu fesseln? Sobald der Reiz des Neuen verflogen war, würde ihn nichts mehr bei ihr halten. Sie war keine atemberaubende Schönheit Und besaß keine ausgeprägte Persönlichkeit. Und soweit es das Bett betraf, fehlte es ihr erst recht an Erfahrung. Nein, sie musste fort. Jetzt gleich. Wenn sie bei Alexio blieb, würde er sie zerstören, wie ihr Vater ihre Mutter zerstört hatte.
Nachdem sich Ione so neuen Mut zugesprochen hatte, verließ sie leise das Zimmer, um die oberen Stockwerke auszukundschaften. Das Ergebnis war niederschmetternd. Nirgends war ein Fluchtweg zu entdecken, und sie musste schließlich ohne Erfolg ins Schlafzimmer zurückkehren.
Erst jetzt bemerkte sie, dass eine Feuerleiter vom Badezimmer in eine schmale Gasse hinunterführte, die seitlich vom Palais entlanglief. Sie verschloss die Badezimmertür, zog die Sachen an, die sie im Handkoffer mitgebracht hatte, und legte den vorbereiteten Abschiedsbrief auf den Spiegeltisch. Alles musste sehr schnell gehen, wenn sie nicht von Alexio oder einem Hausangestellten überrascht werden wollte.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Badezimmerfenster öffnete und rückwärts hinausstieg. Am Fensterbrett hängend, tastete sie mit den Füßen nach der schmalen Eisenplattform und ließ sich vorsichtig hinuntergleiten. Stufe für Stufe stieg sie die gewundene Eisentreppe hinab, wobei sie krampfhaft versuchte, nicht nach unten zu sehen.
Endlich hätte sie den Boden erreicht. Einen Moment lehnte sie sich an die Hauswand, um Atem zu holen und zu warten, bis das Zittern ihrer Beine aufgehört hatte. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und rannte los.
Alexio wollte schon nach oben gehen, um nach Ione zu sehen, als Tipo, der Anführer ihrer kleinen Schutztruppe, ihn beiseitedrängte und selbst hinauflief.
Minos hatte darauf bestanden, seiner Tochter mehrere Leibwächter mitzugeben. Zu viele, wie Alexio fand, aber Minos hatte behauptet, kürzlich Drohbriefe erhalten zu haben, und ihn damit vom Ernst der Lage überzeugt. Seine Feinde, hatte er gesagt, würden Ione vielleicht als Waffe gegen ihn benutzen, denn sie sei während der Hochzeitsreise gefährdeter als er selbst. Einem alten kranken Mann auf einer gut bewachten Privatinsel könne man weniger anhaben als einer Frau, die darauf aus sei, sich in Paris zu amüsieren.
„Was suchen Sie da oben?“, rief Alexio. Es ärgerte ihn, dass Tipo seine Bitte, sich möglichst im Hintergrund zu halten, schon am ersten Abend missachtete. Schließlich war dies sein Haus, und solange er da war, konnte Ione nichts geschehen.
„An einem Fenster wurde Alarm ausgelöst“, rief Tipo und informierte über Handy seine Mitarbeiter.
Alexio stürmte die Treppe hinauf und folgte Tipo ins Schlafzimmer. Wahrscheinlich war Ione vor Erschöpfung eingeschlafen, aber das Bett war unberührt und die Tür zum Badezimmer geschlossen. Das verdoppelte seinen Zorn. Warum verursachte Tipo solchen Lärm und verletzte damit ihre Privatsphäre? Ione hätte beim Umziehen sein können, während der Tölpel hereinplatzte!
„Ich breche die Tür auf“, schlug Tipo vor.
„Ione?“ Alexio klopfte, wartete einen Augenblick und klopfte wieder. Als keine Antwort kam, packte ihn die Angst. Wenn Ione nun in der Badewanne eingeschlafen war? Nein, er durfte nicht länger warten. Mit voller Wucht warf er sich gegen die Tür, bis sie splitternd nachgab.
„Sie ist geflohen!“ Tipo zeigte auf das offene Fenster und die am Boden liegenden Kleidungsstücke.
„Wie bitte?“ Alexio war vorübergehend fassungslos.
„Sie wird am Flughafen sein“, erklärte Tipo und rannte zur Tür. „Wir bringen sie zurück.“
Alexio achtete nicht mehr auf ihn. Er ging von einem Zimmer zum anderen und rief dabei laut Iones Namen. Wenn sie nicht hier oben war, würde er sie irgendwo im Erdgeschoss finden. Sie konnte nicht einfach verschwunden sein. Er weigerte sich, an diese Möglichkeit zu denken.
Aber wenn nun jemand die Feuerleiter hinaufgeklettert war und Ione entführt hatte? Von Schreckbildern gepeinigt, ging Alexio noch einmal ins Badezimmer und sah sich genauer um. Diesmal entdeckte er den Brief, den Ione unter eine Ecke des Spiegels geschoben hatte. Sein Inhalt bestand nur aus einem Satz: „Es tut mir
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