Julia Festival 94
Blicken der Verkäuferin hineinzuschlüpfen. Der Mantel war viel zu lang und reichte ihr fast an die Knöchel, aber Alexio kniete sich hin und schloss einen Knopf nach dem anderen, bis nichts mehr von ihr zu sehen war.
„Aber … warum nur?“, wagte sie endlich zu fragen.
„Solange du meinen Namen trägst, wirst du in der Öffentlichkeit nicht wie ein Flittchen herumlaufen“, antwortete Alexio. Ihm war klar, dass er möglicherweise überreagierte, aber er hätte es nicht ertragen, seine junge Frau noch einmal den gierigen Blicken fremder Männer auszusetzen.
Ione war vor Verlegenheit tief errötet. Flittchen …Wie konnte er es wagen? Ihre Aufmachung war der letzte Schrei! Alexio verhielt sich genauso wie ihr Vater. Der hätte bei ihrem Anblick auch einen rasenden Wutanfall bekommen.
Alexio überlegte kurz und fasste den Entschluss, Ione in ein Flughafenhotel zu bringen, um dort mit ihr zu sprechen. Was auch geschah, was immer sie zu erzählen oder zu beichten hatte … er würde nicht die Beherrschung verlieren. Doch in seinen Gedanken stiegen Bilder auf, die ihn wütender machten als jemals zuvor.
War er ein totaler Trottel gewesen? Liebte sie immer noch den Sohn des Fischers? So, wie sie auf dem Flughafen herumstolziert war, ein Blickfang für jeden hergelaufenen Lüstling, erinnerte sie ihn kaum noch an die scheue, zurückhaltende Ione, die er geheiratet hatte.
War sie weggelaufen, um sich irgendwo mit diesem Yannis zu treffen? Hatte sie nur einen Ehemann gebraucht, um von ihrem tyrannischen Vater loszukommen, der schon einmal alles getan hatte, um sie von ihrem Geliebten zu trennen?
6. KAPITEL
Eine Viertelstunde später stand Ione in einer eleganten Hotelsuite, mit ihrer kleinen Tasche in der Hand und Edward unter dem Arm.
„Mich interessiert nur die Wahrheit“, sagte Alexio so gefasst, wie es ihm möglich war.
Ione betrachtete ihn unsicher. Er war zornig, das konnte er trotz aller Beherrschung nicht verbergen, aber vor allem sein müder, angestrengter Gesichtsausdruck ging ihr zu Herzen. Ihr Gewissen meldete sich mit Macht, und sie kam sich wie der schlechteste Mensch auf der Welt vor.
Wie sollte sie Alexio die Situation erklären? Wenn er erfuhr, wie unredlich und selbstsüchtig sie gehandelt hatte, würde er ihr im ganzen Leben nicht verzeihen. Er würde sie nur noch verachten, weil sie sein Vertrauen und seine Aufrichtigkeit mit Lügen belohnt hatte, mit Verstellung und andauernder Vorspiegelung falscher Tatsachen.
Erst jetzt, da sein durchdringender Blick keine Spur von Sympathie verriet, erkannte sie, wie wichtig ihr seine Achtung war. Der Gedanke, er könnte sich mit Widerwillen von ihr abwenden, erschien ihr so unerträglich, dass sie alles getan hätte, um ihn zurückzugewinnen.
„Warum ziehst du nicht endlich den langen Mantel aus?“, fragte Alexio ungeduldig.
„Warum ich …?“
„Ich bin dein Ehemann.“ Er kam auf sie zu, nahm ihr die Tasche und den Bären ab und warf beides auf das Sofa. „Warum verhüllst du dich vor mir, wo du doch keinerlei Bedenken hattest, dich öffentlich bloßzustellen?“
Ione rührte sich nicht, während Alexio ihr schnell und geschickt den langen Mantel aufknöpfte. Eine furchtbare Angst stieg in ihr auf und lähmte sie wie ein tödliches Gift – die Angst, dass Alexio sie verlassen würde. Ihr Wunsch nach Freiheit, die Sehnsucht nach ihrer Schwester zählten nicht mehr. Die Welt bestand nur noch aus Alexio.
„Du hast mich ein Flittchen genannt …“
„Das war noch geschmeichelt.“ Alexio zog Ione den Mantel aus und trat einen Schritt zurück, um sie mitleidlos zu betrachten.
Iones Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde. Wenn Alexio sie so ansah, kam sie sich nackt und hilflos vor, wie eine Sklavin auf dem Markt.
„Schweigen passt nicht zu deiner Aufmachung“, bemerkte Alexio sarkastisch. „Also, heraus damit! Wolltest du deine Hochzeitsnacht mit einem anderen Mann verbringen? Hast du ein Abenteuer gesucht?“
Ione wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr war inzwischen klar geworden, dass sie irgendeine Ausrede erfinden musste, denn die Wahrheit hätte sie in Alexios Augen vernichtet.
„Ich weiß nicht …“
„Du weißt es nicht?“, wiederholte Alexio, während er erregt hin- und herging. Dann blieb er stehen und maß Ione mit einem eisigen Blick. „Was ist das für eine Antwort? Wir haben heute Morgen geheiratet, und wenige Stunden später ziehst du dich wie ein Straßenmädchen an, kletterst die Feuerleiter hinunter und eilst
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