Julia Festival 94
Vater nicht erreichen kannst, solltest du die Behörden einschalten“, riet Ruth. „Es passt zu Erica, dass sie dir die Lage nicht durch ein Testament erleichtert hat, aber wir dürfen wohl davon ausgehen, dass ihr hinterlassenes Vermögen und das monatliche Einkommen Ben zustehen.“
„Er würde dadurch zu einem recht wohlhabenden jungen Mann“, überlegte Freddy. „Man wird sich darum reißen, ihn zu adoptieren. Um Missbrauch auszuschalten, werden sich die Leute vom Sozialamt um reiche Familien bemühen, die nicht auf Bens Geld aus sind. Welche Chance habe ich da noch? Ich bin alleinstehend, zurzeit arbeitslos und erst vierundzwanzig …“
„Aber, soweit bekannt, auch die einzige Verwandte des Jungen, und du hast dich seit seiner Geburt um ihn gekümmert.“ Ruths Ton verriet, dass sie keinen der Gründe, die für eine Adoption durch Freddy sprachen, guthieß. „Ich wünschte, du wärst nie in diesen Fall hineingezogen worden. In deinem Alter eine solche Last auf sich zu nehmen …“
Freddy hob trotzig das Kinn. „Ben ist keine Last.“
„Du hast Ericas Probleme zu deinen gemacht und seitdem kein eigenes Leben mehr geführt.“ Ruth verbarg ihre wahre Meinung nicht länger. „Sie hat dich schamlos ausgenutzt, dir ihre Verantwortung aufgepackt …“
„Und mich großzügig dafür bezahlt.“
„Dafür, dass du Tag und Nacht für den Jungen da warst … Woche für Woche, Monat für Monat. Sie hat deine Gutmütigkeit ausgenutzt, und es ist kein Wunder, dass du Ben als deinen eigenen Sohn ansiehst. Gott weiß es, mein Kind. Nur du bist ihm die richtige Mutter gewesen!“
Ruth betrachtete Freddys unglückliches Gesicht. Sie hatte früher das Haus neben den Suttons bewohnt und kannte Erica und Freddy von früh auf. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie die Mädchen darüber gelacht hatten, dass sie beide Frederica hießen – nach einer unverheirateten Großtante, von der sich ihre Väter, zwei Brüder, ein wohlwollendes Testament erhofften. Die Familien hatten bei der Geburt der Mädchen keinen näheren Kontakt gehabt, und so war die etwas peinliche Übereinstimmung erst Jahre später entdeckt worden. Als Ericas Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, hatte ihr verwitweter Onkel sie zu sich genommen und wie eine zweite Tochter erzogen.
Wie hätte er ahnen können, dass dieses großmütige Verhalten so negative Folgen für Freddy haben würde? Nach Ruths Ansicht war Erica schon als Kind verlogen und eigensüchtig gewesen, ein oberflächlicher Charakter, der sich hinter umwerfendem Charme verbarg. Von den Geschichten über die angebliche Grausamkeit ihrer toten Eltern hatte Ruth kein Wort geglaubt, aber die meisten Menschen hatten sich dadurch beeinflussen lassen und Ericas Launen umso mehr nachgegeben. In wenigen Monaten hatte sie sich die Stellung der Lieblingstochter erobert und Freddy, die sich nicht verteidigen und anderen nicht schmeicheln konnte, auf den zweiten Platz verwiesen.
Freddy merkte an Ruths Schweigen, dass es klüger war, den Besuch abzubrechen. Sie verabschiedete sich und fuhr mit der Untergrundbahn nach Hause.
„Zeit zum Baden“, sagte sie zu Ben, als sie in dem luxuriösen Apartment ihrer Cousine ankamen.
„Boote!“ Ben lief in das Badezimmer, um die Plastikboote aus dem Schränkchen neben der Badewanne zu holen. „Meine Spielboote.“
„Und nach dem Baden wird gegessen.“
„Lieb … dich lieb …“ Ben umfasste Freddy mit seinen kleinen Armen, so gut er konnte.
Freddy kämpfte mit den Tränen und hasste sich dafür. Sie würde Ben verlieren. Welches Gericht würde ihr das Sorgerecht für den Jungen zusprechen? Man würde denken, dass sie es auf sein Geld abgesehen hatte.
Sie hatte Ben gerade in seinem Kinderbett fest zugedeckt, als das Telefon klingelte. Das geschah jetzt nur noch selten. Zu Ericas Lebzeiten hatte das Telefon nicht stillgestanden, aber seit sich ihr Tod herumgesprochen hatte, blieben die Anrufe aus.
Freddy nahm den Hörer ab. „Ja bitte?“
„Ich möchte Miss Frederica Sutton sprechen“, antwortete eine tiefe Männerstimme mit starkem ausländischem Akzent.
„Ich bin Miss Sutton, aber welche …“ Miss Sutton meinen Sie?, wollte sie hinzufügen, kam aber nicht dazu.
„Bitte erwarten Sie morgen um zehn Uhr meinen Besuch. Ich möchte mit Ihnen über Benedicts Zukunft sprechen. Sorgen Sie dafür, dass keine fremde Person anwesend ist, sonst findet der Besuch nicht statt.“
„Ich … bitte um Verzeihung“, antwortete Freddy
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