Julia Festival 94
verwirrt, aber der Anrufer hatte bereits aufgelegt.
Nachdenklich ging Freddy durch die Wohnung und versuchte alle Tatsachen, die sie kannte, auf einen Nenner zu bringen. War das eben Bens Vater gewesen? Dann hatte er von Ericas Tod gehört – entweder durch einen gemeinsamen Freund oder durch die Leute von der Schweizer Bank, die ihren Brief vielleicht doch diskret weitergeleitet hatten.
Je länger Freddy nachdachte, umso überzeugter war sie, mit Bens Vater gesprochen zu haben. Wer sonst sollte sich um die Zukunft des Jungen kümmern? Und diese arrogante Forderung, ihn allein zu empfangen! Das passte ganz zu dem Versteckspiel, das bisher getrieben worden war.
Freddy legte sich an diesem Abend mit bösen Vorahnungen schlafen. Der geheimnisvolle Anrufer konnte nur Bens Vater sein, und er würde ihr den Jungen wegnehmen.
Sie würde ihr einziges Kostüm anziehen, dem Mann höflich zuhören und möglichst keine eigene Meinung äußern. Die Stimme des Fremden hatte schroff und überheblich geklungen, und der Akzent deutete auf einen Ausländer hin. Freddy hatte während Ericas Schwangerschaft einmal gefragt, wer der Vater des Kindes sei, und die Antwort erhalten: „Der netteste Mann, der mir je begegnet ist.“ Wer war damit gemeint gewesen? Der arabische Prinz, der angeblich einmal König werden sollte? Der argentinische Millionär mit der riesigen Hazienda oder der indische Maharadscha, von dem angeblich der kostbare Schmuck stammte?
Freddy errötete in der Dunkelheit, als sie an die zahllosen Affären ihrer Cousine dachte. Erica war sehr schön gewesen, und es gab so viele verheiratete Männer, die reich und schwach genug waren, sich durch Schönheit fesseln zu lassen. Für wen hätte sie sich da entscheiden sollen?
„Ich wünsche mir doch nur einen, der mich wirklich liebt“, hatte sie einmal entschuldigend gesagt und in ihrer zynischen Art hinzugefügt: „Was geht es mich an, wenn er schon einer anderen gehört? Sie würde auf mich auch keine Rücksicht nehmen. Das Leben ist nun einmal hart.“
2. KAPITEL
Um zehn Uhr war Freddy bereit, ihren Besucher zu empfangen. Das Apartment glänzte, denn sie war schon vor sechs Uhr aufgestanden und hatte beim Saubermachen keine Ecke ausgelassen. Sie trug das marineblaue Kostüm, eine zartgrüne Bluse und Pumps mit kleinem Absatz. Das dichte blonde Haar hatte sie streng zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, denn sie wollte seriös, aber nicht altmodisch wirken.
Während sie sich noch kritisch im Spiegel betrachtete, fiel ihr die Brille ein, die sie als Studentin getragen hatte, um ihre Augen zu schonen. Sie setzte sie auf und nickte befriedigt. Mindestens dreißig, dachte sie. Modern, praktisch und vernünftig. Sie würde nicht lügen, falls man sie nach ihrem Alter fragte, aber …
Es klingelte an der Wohnungstür. Freddy öffnete und trat erschrocken beiseite, denn drei dunkelhäutige Männer in dunklen Anzügen drängten sich an ihr vorbei und durchsuchten alle Zimmer, um festzustellen, ob außer ihr und Ben noch jemand in der Wohnung war.
„Bitte … wecken Sie ihn nicht auf.“ Freddy war ins Wohnzimmer geeilt und stellte sich schützend vor Ben, der auf der Couch schlief. „Er wird sich fürchten … Ich fürchte mich …“
Einer der Männer gab über Handy eine Meldung durch, dann zogen sich alle drei in den Flur zurück, ohne auch nur von Freddy Notiz genommen zu haben. Sie hörte den Lift surren und mit einem leisen „Ping“ auf der Etage halten. Schritte ertönten, einige leise Worte wurden gewechselt, dann tauchte ein großer dunkler Mann an der Wohnzimmertür auf.
Er wirkte weder freundlich noch vertrauenerweckend, aber Freddy betrachtete ihn wie gebannt, denn er sah unwahrscheinlich gut aus und war viel jünger, als sie erwartet hatte. Ein Athlet, dem jede sportliche Leistung zuzutrauen war. Ein Tycoon, der mit seinen Unternehmen die Welt beherrschte. Ein Mann, der die Frauen davon träumen ließ, irgendwann in seinem Bett aufzuwachen. Bei dieser viel zu intimen Vorstellung errötete Freddy tief.
„Sind Sie Miss Sutton?“, fragte er und sah sie mit seinen dunklen Augen an.
Freddy nickte benommen. Nicht nur sein Blick verwirrte sie, sondern auch das schwarze, bläulich schimmernde Haar, das makellos geschnittene Gesicht, der matte Bronzeton der Haut, die kräftige Nase und der schöne, viel zu sinnliche Mund. Er war hinreißend, fantastisch, der absolute Pin-up-Typ. Erica musste sich unsterblich in ihn verliebt haben, wie jede
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