JULIA FESTIVAL Band 84
an. „Ich habe doch gehört, dass du zu ihr gesagt hast, sie solle versuchen, mich dort unterzubringen.“
„Das ist noch nicht endgültig. Und du hättest uns nicht belauschen sollen.“
„Wenn Mom gewollt hätte, dass ich auf ein teures Internat gehe, hätte sie mich schon vor Jahren angemeldet.“ Tränen schimmerten in Kimberlys Augen. „Du willst mich nicht, Onkel Anthony. Nicht so, wie Mom und Dad mich gewollt haben.“
Anthony erkannte, dass seine Nichte den Schmerz über den Tod ihrer Eltern noch nicht bewältigt hatte. Er konnte ihr Vater und Mutter nicht ersetzen. Niemand konnte das. Und er vermisste die beiden ja auch. Seine einzige Schwester, die ihn so gut wie großgezogen hatte, und Colin, der immer freundlich zu ihm gewesen war und ihn unterstützt hatte. Es war schwer gewesen, sein Leben mit dem einer Zwölfjährigen in Einklang zu bringen, aber nicht ein einziges Mal in diesem Jahr hatte Anthony die neue Aufgabe widerwillig erfüllt. „Doch, ich will dich, Kimberly“, versicherte er ihr ernst.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich wurde dir aufgeladen, und jetzt möchtest du mich woanders abladen.“
„Nein.“
„Wenn meine richtige Mutter mich haben will, brauchst du überhaupt nichts mehr zu tun.“ Kimberly wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. „Dann kannst du mich bei ihr abliefern und frei und unbelastet mit deiner Freundin zusammen sein, ohne dich um die Tochter anderer kümmern zu müssen.“ Sie schaute wütend Rachel an. „Ich will Sie ebenso wenig am Hals haben, wie Sie mich am Hals haben wollen, Miss Pearce.“
Machtlos gegen solche Feindseligkeit, blickte Rachel seufzend Anthony an.
„Geh einfach“, riet er.
„Tut mir leid.“
„Nicht deine Schuld.“
„Nein, es ist meine Schuld!“, schrie Kimberly. „Ich verderbe euch beiden alles. Deshalb sollte ich gehen!“ Sie lief zur Balkontür und drückte sich an Rachel vorbei.
Anthony folgte seiner Nichte, doch sie war schon durchs Wohnzimmer gerannt und riss die Haustür auf. Schon halb draußen, drehte sich Kimberly noch einmal um und rief: „Wenn ich dir überhaupt irgendetwas bedeute, bring mir zu Weihnachten meine richtige Mutter, Onkel Anthony! Dann wird vielleicht noch alles gut.“
2. KAPITEL
An diesem Tag war das Päckchen von Denise Graham auch nicht gekommen. Einmal im Jahr schrieb sie, wie es Kimberly ging, und schickte Fotos, die sie in den vergangenen zwölf Monaten von ihrer Adoptivtochter gemacht hatte.
Deprimiert und besorgt betrat Meredith Palmer ihre Wohnung und schloss hinter sich ab. Wieder sah sie die Post durch, die sie gerade aus dem Briefkasten genommen hatte. Weihnachtskarten, Kontoauszüge, ein Werbeprospekt … Meredith öffnete jeden Umschlag und kontrollierte den Inhalt zweimal, aber sie hatte sich nicht geirrt. Von Denise Graham war nichts dabei.
Normalerweise kam das Päckchen in der letzten Novemberwoche. Elf Jahre lang hatte es immer pünktlich im Briefkasten gelegen. An diesem Tag war der vierzehnte Dezember, und jetzt war Meredith überzeugt, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Sogar ihre Briefe ließen erkennen, dass Denise Graham übergenau war, ein Mensch, der nach einem strengen „Fahrplan“ lebte. Entweder war das Päckchen in der Weihnachtspost verloren gegangen, oder im Haushalt der Grahams stimmte irgendetwas nicht.
Krankheit? Ein Unfall?
Meredith malte sich alle möglichen Katastrophen aus. Nicht Kimberly, dachte sie. Bitte … nicht Kimberly! Ihr kleines Mädchen musste noch ein wundervolles Leben vor sich haben. Nur indem sie daran geglaubt hatte, hatte Meredith all die Jahre damit fertig werden können, dass sie ihre Tochter nicht behalten hatte.
Sich das Schlimmste vorzustellen brachte überhaupt nichts. Vielleicht war dem Anwalt etwas zugestoßen, der die Adoption abgewickelt hatte und seitdem Denise Grahams jährlichen Bericht und die Fotos an Meredith weiterleitete. Wann immer sie umgezogen war, hatte sie ihm die neue Adresse mitgeteilt. Und sie war mindestens ein halbes Dutzend Mal umgezogen, bevor sie genug Geld gespart hatte, um sich diese Wohnung in Balmoral zu kaufen. Jedes Mal hatte Meredith vom Anwalt eine Empfangsbestätigung erhalten, und niemals war etwas schiefgegangen. Aber möglicherweise hatte er die Angelegenheit jemand anderem übergeben, der nicht so übertrieben genau und gründlich arbeitete.
Meredith ging ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch, der in einer Ecke zwischen zwei Wänden mit Bücherregalen stand.
Weitere Kostenlose Bücher