Julia Festival Band 86
Seite her an.
„Deine arme Mutter war sehr niedergeschlagen“, erklärte Chase, legte seinen Arm um Annie und warf ihr sein bestes Kopf-hoch-Lächeln zu. „Sie brauchte eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Das war doch so, Annie, nicht wahr?“
„Ja“, bestätigte Annie, die zusammengebissenen Zähne hinter einem Lächeln versteckt. Was hätte sie sonst tun sollen? Damit herausplatzen, dass Chase schwindelte? Dass er und sie sich im Dunkeln so geküsst hatten, dass ihr die Knie weich geworden waren, weil er ein gemeiner, manipulativer Mistkerl war und sie zu lange ohne Mann gewesen war? Denn das war die Wahrheit, oder etwa nicht? Niemals hätte sie derartig leidenschaftlich reagiert, wenn sie nicht schon seit Ewigkeiten wie eine Nonne lebte.
„Wirklich?“ Dawn sah von einem zum andern, und ihr schwaches Lächeln verschwand. „Ich verstehe. Es war dumm von mir zu glauben … Ich meine, als ich sah, wie ihr euch geküsst habt, dachte ich … Habe ich fast gedacht … Ach, was soll’s.“
„Geküsst?“ Annie lachte abwehrend. Sie schlüpfte unter Chases Arm hervor, ging zum Herd und begann, den wer weiß wievielten Tee zu kochen. „Dein Vater und ich, uns geküsst?“
„Mmmm.“ Dawn schlurfte zum Küchentisch und ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Die Ellbogen aufgestützt, legte sie das Kinn in die Hände. „Da sieht man mal, wie blöd ich doch sein kann.“
„Nein“, widersprach Nick schnell. Alle schauten ihn an. Sein jungenhaftes Gesicht überzog sich mit einer feinen Röte. „Das bist du nicht.“
„Doch. Zu heiraten, wenn jeder, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, sehen konnte, dass das ein Fehler ist, weil eine Ehe nicht hält. Das wissen wir doch alle.“
„Wir wissen überhaupt nichts von der Art.“ Nick eilte zu ihr, hockte sich neben ihren Stuhl und nahm zärtlich ihre Hände in seine.
„Guck dich doch bloß mal um, Nick. Dein Onkel Damian – geschieden. Meine Eltern – geschieden. Sogar Pastor Craighill …“
„Der Typ, der die Trauung gehalten hat?“, erkundigte sich Chase.
Dawn nickte.
„Woher weißt du das?“
„Ich habe ihn gefragt. Der arme Mann ist schon zweimal geschieden. Zweimal, könnt ihr euch das vorstellen?“
Mit einem raschen Blick auf Annie presste Chase hervor: „Nein, das kann ich ganz bestimmt nicht.“
„Schau mich nicht so an!“, fuhr Annie auf. Das Wasser kochte sprudelnd, und sie stellte den Kocher aus. „Was haben die Ehegeschichten von dem Mann damit zu tun?“
„Ein Pastor, der seinen Ehering nicht am Finger behalten kann, sollte sich nach einem andern Job umsehen“, knurrte Chase.
„Nein, Daddy“, sagte Dawn. „Er hat genau den richtigen Beruf. Er erinnert uns an die Realität.“ Sie seufzte. „Ich wünschte, ich wäre klug genug gewesen, mir das alles schon vor heute klarzumachen, anstatt so verdammt dumm zu sein.“
„Schatz, bitte hör auf, das zu sagen.“ Nick umfasste ihre Schultern. „Du warst klug genug, dich in mich zu verlieben. Und noch klüger, mich zu heiraten.“ Er warf einen vorwurfsvollen Blick in Annies und Chases Richtung. „Und als du gedacht hast, deine Eltern küssen sich, als wir das Licht angemacht haben, da hattest du recht. Es war so.“
Dawn hob den Kopf. „Ja, wirklich?“
„Absolut. Ich habe es auch gesehen.“
„Nein“, stritt Annie dies ab.
„Haben wir nicht“, fügte Chase hinzu.
Annie winkte mit der Hand zu ihm hin. „Dawn, dein Vater hat dir doch schon erklärt, was geschehen ist. Ich war traurig, und er hat versucht, mich zu trösten.“
„Siehst du, Nick?“ In Dawns Augen standen Tränen. „Sie haben sich nicht geküsst. Ach, wie sehr ich wünschte, sie hätten es getan.“
Annie runzelte die Stirn. „Tatsächlich?“
„Ja, natürlich.“ Dawn schniefte, und Nick zog sofort ein Taschentuch aus der Hosentasche und reichte es seiner jungen Frau, die sich schnäuzte. „Weißt du, als ich dich in Daddys Armen gesehen habe, war das so etwas Großartiges, dass ich zum ersten Mal wieder glücklich war, seit Nick und ich zum Flughafen gefahren sind. Ich dachte – nur für eine Sekunde, das gebe ich zu –, aber trotzdem, ich dachte …“
„Was hast du gedacht?“, fragte Annie behutsam, kam zu Dawn und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. „Was, Darling?“
Dawn stieß zitternd den Atem aus. „Ich dachte, heute sei ein Wunder geschehen“, erwiderte sie leise. „Und dass du und Daddy endlich gemerkt hättet, was für ein Fehler es war
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