Julia Sommerliebe 0020
Drogen. Wir zogen von einem Ort zum nächsten und lebten von der Hand in den Mund. Sie verkaufte sich, damit wir etwas zu essen hatten – und damit sie sich den nächsten Schuss setzen konnte.“
„Oh, Seb!“ Ginas Flüstern drückte so viel Mitgefühl aus, dass er nicht weitersprechen konnte. Sie stand auf, ging zu ihm und schloss die Arme um ihn. Seb barg das Gesicht in ihrem duftenden Haar und genoss es, von ihr getröstet zu werden.
„Was ist dann passiert? Wie habt ihr gelebt?“,fragte Gina nach einer Weile, als er begonnen hatte, ruhiger zu atmen.
„Sie zog immer für einige Zeit mit einem Mann zusammen. Meistens waren es Drogendealer, von denen sie den benötigten Stoff bekam. Normalerweise machte es den Männern nichts aus, dass ich auch da lebte – manchmal war es anders. Irgendwann lief etwas schief, und wir mussten weiter. Eines Tages, etwa drei Jahre nachdem wir von zu Hause weggegangen waren …“ Seb zögerte. Es lag heute zweiundzwanzig Jahre zurück, trotzdem hatte er es noch glasklar in Erinnerung. „Ich kam nach Hause und fand sie tot auf dem Boden des leer stehenden Hauses liegend, in dem wir lebten.“
Gina schloss die Arme noch enger um ihn, und er spürte, dass ihr Gesicht tränenfeucht war. „Oh nein. Wie alt warst du da? Und was hast du getan?“
„Ich war elf und hatte furchtbare Angst, weil ich ganz allein war und niemanden kannte. Immerhin wusste ich, wie man auf der Straße überlebt: Ich fand Restaurants, wo ich Hilfsarbeiten verrichten durfte und dafür übrig gebliebenes Essen bekam. Und ich wusste auch, an welchen Markständen ich Obst klauen konnte und welche Bäckereien Brot wegwarfen.“
„Dir hat niemand geholfen?“
Seb schüttelte den Kopf. Ihn bewegte sehr, dass Gina so aufgebracht reagierte. „Ich wollte keine Hilfe, weil ich niemandem vertraute. Aber anders als die meisten Straßenkinder machte ich einen Bogen um Drogen und Banden. Stattdessen saß ich stundenlang in der Bücherei und las oder drückte mich in Museen herum, wo ich es bei schlechtem Wetter warm und trocken hatte und meinen Verstand benutzen konnte.“
„Und dann?“ Als Gina ein wenig zurückwich, sah er Tränen an ihren langen Wimpern glitzern. „Wie bist du da herausgekommen?“
„Ich wurde krank: eine Lebensmittelvergiftung. Ein Pfarrer hat mich halb bewusstlos auf der Straße gefunden, er brachte mich in eine von Nonnen geleitete Klinik.“ Seb nahm Ginas Hände und küsste nacheinander beide Handflächen, sodass sie erschauerte. „Ich wusste nicht, dass die Schwester meines Vaters und deren Mann die Suche nach mir nie aufgegeben hatten. Sie hatten Zettel mit meinem Namen und einem Foto aufgehängt. Eine Nonne erkannte mich schließlich und rief Zio Roberto und Zia Sofia an, die mich daraufhin zu sich und ihrem Sohn Ricco nahmen, der etwa in meinem Alter war. Ich war wild, zurückhaltend und verängstigt, aber sie gaben nicht auf.“ Bei der Erinnerung daran, wie seine Verwandten ihn mit ihrer geduldigen, bestimmten, aber liebevollen Art schließlich für sich gewonnen hatten, musste Seb immer lächeln.
Seit damals wollte er sich für ihre Großzügigkeit revanchieren und sie stolz machen. Ricco, der sich mit dem misstrauischen, widerspenstigen Jungen von damals angefreundet hatte, war sein bester Freund und Vertrauter geworden, sein Fels in der Brandung. Ricco hatte ihn auch tatkräftig dabei unterstützt, den verpassten Lernstoff in der Schule nachzuholen. Sie hatten einfach alles zusammen gemacht, sogar das Medizinstudium. In jenen Jahren war Seb von dem starken Wunsch getrieben gewesen, seiner Tante, seinem Onkel und auch Ricco zu zeigen, dass sie nicht umsonst so viel Zeit in ihn investiert hatten. Außerdem hatte er sich beweisen wollen, dass er das Vertrauen und die Zuneigung anderer Menschen verdiente. Erst jetzt wurde Seb bewusst, wie stark ihn seine Vergangenheit noch immer beeinflusste.
„Das waren also die unschönen Details meines Lebens“, sagte er und wollte seinen Bericht damit beenden. Er konnte das plötzliche Gefühl von Verletzlichkeit schlecht ertragen.
„Du solltest es nicht herunterspielen“, schalt Gina ihn sanft. „Es war bestimmt nicht einfach, mir das alles zu erzählen. Und ich fühle mich dadurch wirklich sehr geehrt. Deine Vergangenheit ist ein Teil von dir und hat dich mit zu dem Menschen gemacht, der du bist. Du solltest stolz auf all das sein, was du geleistet hast.“
Falls er Gina unbewusst auf die Probe hatte stellen wollen, so hatte sie
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