Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
einsetzten, wirken Julia Timoschenkos Kindheit und Jugend Grau in Grau wie die Zeit, in die sie fielen.
Das Leben von Breschnews Untertanen war auf Jahrzehnte hinaus – von der Wiege bis zur Bahre – vorgezeichnet. Schule, Hochschule, Arbeit für ein kleines Gehalt, berufliches Fortkommen, Datsche mit Grundstück von 600 Quadratmetern, das Warten auf eine eigene Wohnung, die nächste Beförderung, mit viel Glück schließlich eine Wohnung in einem Plattenbauviertel weit draußen vor der Stadt, die dritte Beförderung, die Rente, Enkel, selbst gekochte Marmelade und schließlich der ewige Friede.
Das Leben war so klar vorbestimmt, dass man darüber den Verstand verlieren konnte.
Wenn die Eltern nicht zur Partei- oder Wirtschaftselite gehörten und man selbst kein zu allem bereiter Zyniker war, dann konnte man sein halbes Leben in Schlangen beim Warten auf das Allernötigste verbringen.
Den Männern fiel es leichter, mit unerträglicher Langeweile fertigzuwerden. Russen haben ihren Kummer immer im Wodka ertränkt – innerhalb und außerhalb der Arbeitszeit. Die Frauen hatten es da schwerer. Ihr natürliches Streben, sich hübsch und modern zu kleiden und ein normales Familienleben zu führen, blieb für die überwiegende Mehrheit jahrzehntelang ein ferner Traum.
Dafür waren die sowjetischen Frauen sehr romantisch.
Nach dem Zusammenbruch des Imperiums stellte die Statistik einen katastrophalen Rückgang der Geburten in der ganzen ehemaligen Sowjetunion fest. Ja, die Menschen hatten Zukunftsangst, aber das war es nicht allein. Das Fehlen aller kapitalistischen Verlockungen und das öde Propagandafernsehen an langen dunklen Winterabenden hatten die Sowjetunion zum größten Leseland der Welt gemacht. Außerdem zu einem Land, das in allen seinen elf Zeitzonen von der Liebe heimgesucht wurde. Die Menschen träumten, waren eifersüchtig, wurden untreu, verziehen einander, wurden erneut enttäuscht und verliebten sich wieder, tauschten Blicke, senkten die Augen, kamen zum Rendezvous, küssten sich leidenschaftlich in Hauseingängen, heirateten mehrmals und ließen sich wieder scheiden, wurden schwanger, trieben ab, wurden erneut schwanger und brachten Kinder zur Welt. Tschechow spricht in seiner »Möwe« von »fünf Pud Liebe«. Die Menge der Liebe in der Sowjetunion der Breschnew-Zeit kann man stolz in Millionen Tonnen und Milliarden Kubikmetern messen – so wie den geschmolzenen Stahl und das aus Sibiriens Schoß geförderte Erdgas, von dem die Zeitungen schrieben und das Fernsehen berichtete.
Zwar heirateten die Frauen in der Sowjetunion wesentlich früher als im Westen und bekamen Kinder, aber wie rasch sich Julia von ihrer Mutter abnabelte und ein eigenes Familienleben begann, ist dennoch beeindruckend. Schon mit 17 lernte sie Oleksandr Timoschenko kennen. Mit 18 heiratete sie ihn. Mit 19 brachte sie ihre Tochter zur Welt.
Ende der Siebzigerjahre kam es unter der Jugend von Dnipropetrowsk in Mode, anonyme Bekanntschaften per Telefon zu schließen. Man wählte aufs Geratewohl eine Nummer, und wenn einem die Stimme in der Leitung gefiel, entspann sich ein Flirt, an dessen Ende man sich verabredete. Julias Freundin Lena kam auf diese Weise mit einem jungen Mann in Kontakt, verabredete sich mit ihm, ging zum Treffpunkt und geriet völlig aus dem Konzept, so gut sah der Junge aus. Sie ergriff die Flucht und bat ihre Freundin: »Julia, geh du für mich hin!« Die lachte lauthals über diese Bitte, ging dann aber zum Spaß darauf ein. Oleksandr und Julia trafen sich am vereinbarten Ort – vor der Tür zum Klub der Taubstummen.
Es verging kein Jahr, und sie waren Mann und Frau.
Nur wenige Faktoren wirkten sich in der Breschnew-Zeit tief greifend auf Julia Timoschenkos Lebensweg aus:
Da war die Armut, der sie um jeden Preis entfliehen wollte. Das Turnen bot ihr die erste reale Chance, das »Haus des Taxifahrers« für immer hinter sich zu lassen. Dazu kam ihre Attraktivität, der sie sich früh bewusst war. Und die Heimatstadt mit ihren Traditionen, Ambitionen und Perspektiven. Schließlich die Familie ihres Mannes.
Gennadi Timoschenko, Oleksandrs Vater, gehörte einem Clan an. Er kannte persönlich einflussreiche Dnipropetrowsker wie den späteren Präsidenten Kutschma oder die künftigen Ministerpräsidenten Lasarenko und Pustowoitenko. Und er war der Erste, der erkannte, welch außergewöhnliche Fähigkeiten in seiner Schwiegertochter schlummerten.
Armut und Reichtum sind immer relativ. Die
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