Julia Timoschenko - die autorisierte Biografie
Eigentumswohnung an der Karl-Marx-Straße, zu der Gennadi Timoschenko seinem Sohn samt Familie verhalf, mag nach Kriterien, die außerhalb der Sowjetunion gelten, winzig gewesen sein: ganze 32,1 Quadratmeter. Die jungen Leute lebten dort mit ihrer Tochter. In der Sowjetunion war jedoch eine eigene Wohnung für derart junge Eheleute ein unvorstellbarer Luxus. Die meisten drängten sich jahrelang in ähnlicher Enge mit den Eltern des Mannes oder der Frau.
Die Heirat bedeutete für Julia einen neuen Status und ein neues Leben.
Bisher hatte sie in russischen Schulen gelernt und auch das Studium an der Universität in russischer Sprache absolviert. Mit Mutter, Tante, Freunden und Verwandten hatte sie bislang nur Russisch gesprochen. Ukrainisch lernte die künftige Ministerpräsidentin des Landes erst als Erwachsene, als sie in die Politik ging. »Ich setzte mir das Ziel, mich auf Ukrainisch verständigen zu können«, erinnerte sie sich später. »Heute staune ich über mich selbst. Ich denke auf Ukrainisch, schreibe meine Reden und bete sogar (still) auf Ukrainisch.«
Das ist für ukrainische Politiker der neuen Zeit nichts Ungewöhnliches. Fuhr mancher führende Funktionär der Ukrainischen Kommunistischen Partei in den Dreißigerjahren mit einem Dolmetscher nach Moskau, weil er schlecht Russisch sprach, so erlernte Leonid Kutschma die Landessprache erst, als er zum ersten Mal einen Wahlkampf um den Posten des Präsidenten der unabhängigen Ukraine bestreiten musste. Im Jahre 2000 waren die Menschen schockiert, als Mitschnitte von Geheimgesprächen in Kutschmas Büro bekannt wurden. Das lag nicht nur an ihrem Inhalt. Dass es in den höchsten Behörden Bestechung, Zynismus und Habgier gab, wusste man bereits. Schockierend war die Sprache des Präsidenten – ein Gemisch aus schlechtem Russisch und primitivem Ukrainisch. Im Unterschied zu Julia Timoschenko beherrschte Kutschma die Staatssprache des Landes kaum, das er zehn Jahre lang regierte.
Wenn Julia Timoschenko rasch in engen Kontakt mit der ukrainischen Sprache kam, dann verdankte sie das der Familie ihres Mannes.
Gennadi Timoschenko absolvierte ein Studium an der Universität Lwiw und hatte bereits eine Dissertation geschrieben, als er sich für eine Verwaltungslaufbahn in Dnipropetrowsk entschied. Sein Thema waren die Naziverbrechen während des Krieges in der Ukraine gewesen. Auf der Karte des Landes, die einem Flickenteppich gleicht, stellte die Hauptstadt Galiziens stets ein Gegengewicht zu ostukrainischen Industriegiganten wie Dnipropetrowsk, Charkiw oder Donezk dar, wo man vorwiegend Russisch sprach. In Lwiw zog man dagegen, ähnlich wie im Baltikum, grundsätzlich die Muttersprache vor und widersetzte sich damit dem Kurs der Russifizierung.
1984 schloss Julia die Universität mit Auszeichnung ab und nahm sofort eine Arbeit auf. In der UdSSR herrschte Vollbeschäftigung, und wenn man den Zeitungen Glauben schenken will, genossen es die Frauen, dass sie die gleichen Rechte hatten wie das »starke Geschlecht«. Der sowjetische Feminismus der Breschnew-Zeit war jedoch genau das Gegenteil von dem, was man im Westen unter Feminismus verstand. Die Sowjetfrauen brauchten nicht um ihre Gleichberechtigung mit den Männern zu kämpfen, wenn es um das Recht auf Arbeit ging. Das drängte ihnen der Staat geradezu auf. Allerdings gelangten Frauen, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht bis in die Führungsebenen des Landes. Dafür hatten sie das Recht, wie die Männer Eisenbahnschwellen zu schleppen, in gesundheitsschädlichen Chemiefabriken zu arbeiten oder Kohlewaggons auszuladen. Die sowjetische Frau hatte um ganz andere Rechte zu kämpfen. Vor allem um das Recht auf spezifisch weibliche Bedürfnisse und Wünsche, um das Recht, eine Frau zu sein, das heißt, sich vom Mann zu unterscheiden.
Julias erste Arbeitsstelle in der nach Lenin benannten Maschinenfabrik von Dnipropetrowsk war auch für sowjetische Begriffe ein großes Unternehmen: 8000 Arbeiter und Angestellte, die in 600 Brigaden organisiert waren. Wie die meisten Betriebe von Dnipropetrowsk gehörte sie zur Rüstungsindustrie. Dort wurden einzigartige Funkmessgeräte gefertigt. Auch dieser geheime Betrieb hatte seine Legende, die sein Profil nach außen tarnen sollte. Auf neugierige Fragen hatte Julia wie alle Beschäftigten zu antworten, ihr Betrieb stelle Kühlschränke der Marke Dnepr her.
Sie begann als Ingenieurin in der Abteilung »Arbeitsorganisation und Löhne« zu arbeiten. Das war die
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