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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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worden.
    Welch seltsame Vorstellung, dass die Liebe zur Schönheit einen Künstler so leicht zum Verbrecher machen konnte. Wie ausgesprochen grausam von Fortuna, einem alten Mann auf Kosten des Glückes eines jungen Paares eine Lektion zu erteilen. Oder gaukelte er sich etwas vor, wenn er sein Vergehen durch hehre Ideen zu erklären suchte? War es womöglich allein seine niedere menschliche Natur, welche die jungen Liebenden von Anfang an dem Untergang geweiht hatte? Konnte es sein, dass er sein eigenes schwächliches Begehren auf den bewundernswerten Leib von Romeo übertragen hatte, und all seine Hoffnungen auf die glückliche Vereinigung der jungen Leute lediglich ein Versuch gewesen waren, auf diesem Wege Zugang zu Giulietta Tolomeis Brautgemach zu finden?
    Der Maestro neigte nicht dazu, sich mit religiösen Fragen auseinanderzusetzen, es sei denn, sie waren Teil eines Gemäldes und somit gut bezahlt. Nun aber traf es ihn wie ein Schlag, dass die leichte Übelkeit, die er bei der Vorstellung empfand, als lüsterner alter Puppenspieler zu fungieren, ungefähr dem Gefühl entsprechen musste, welches Gott jeden Moment und alle Tage empfand. Falls er überhaupt etwas empfand. Er war schließlich ein göttliches Wesen, und es konnte durchaus sein, dass Göttlichkeit mit Gefühlen nicht vereinbar war. Falls aber doch, dann konnte einem Gott wahrhaft leid tun, denn die Geschichte der Menschheit war im Grunde nichts anderes als eine einzige lange Leidensgeschichte.
    Anders verhielt es sich mit der Jungfrau Maria. Sie war selbst ein menschliches Wesen gewesen und wusste daher, was es hieß zu leiden. Sie war diejenige, die stets ein Ohr für menschliche Nöte hatte und dafür sorgte, dass Gott seine Donnerschläge in die richtige Richtung schickte. Wie die schöne Gattin eines mächtigen Mannes war sie diejenige, mit der man sich gutstellen und an die man sich wenden musste, weil nur sie den Weg zu seinem göttlichen Herzen kannte. Ihr hatte Siena die Schlüssel zu seinem Haupttor überreicht, und dafür schenkte sie den Bewohnern der Stadt besondere Zuneigung und beschützte sie vor ihren Feinden, wie eine Mutter ihren kleinen Sohn beschützt, der sich vor den Schikanen seiner Brüder in ihre Arme flüchtet.
    Während der Maestro das Gefühl hatte, dass der Weltuntergang kurz bevorstand, fand seine Stimmung kein Echo in den Gesichtern der vielen Menschen, die er in seinem Bemühen, Fontebecci noch vor Beginn des Rennens zu erreichen, ungeduldig zur Seite schob. Alle waren in Feierlaune, und niemand hatte es besonders eilig. Solange man sich einen Platz an der Straße sicherte, bestand eigentlich keine Notwendigkeit, die ganze Strecke bis nach Fontebecci zu marschieren. Natürlich gab es im Startbereich einiges Interessante zu sehen, ob es die ganzen Zelte waren, die vielen Fehlstarts oder die vornehmen Familien, deren Söhne am Rennen teilnahmen. Letztendlich aber konnte kein Spektakel beeindruckender sein als der donnernde Hufschlag von fünfzehn heranpreschenden Schlachtrössern mit ihren Rittern in schimmernder Rüstung.
    Als Maestro Ambrogio sein Ziel endlich erreicht hatte, steuerte er schnurstracks auf die Farben des Marescotti-Adlers zu. Romeo war bereits aus dem gelben Zelt hervorgekommen und von den Männern seiner Familie umringt, die man auffallend wenig lächeln sah. Selbst Comandante Marescotti, der dafür bekannt war, selbst in der aussichtslosesten Situation noch für jeden ein paar aufmunternde Worte übrig zu haben, sah aus wie ein Soldat, der genau wusste, dass er in einen Hinterhalt geraten war. Er hielt höchstpersönlich das Pferd seines Sohnes, während dieser sich in den Sattel schwang, und war auch der Einzige, der Romeo direkt ansprach.
    »Habe keine Angst«, hörte der Maestro ihn sagen, während er den Plattenpanzer zurechtrückte, der den Kopf des Tieres vor Verletzungen bewahren sollte, »er steht wie ein Engel, aber er wird rennen wie der Teufel.«
    Romeo, der zu aufgeregt war, um zu sprechen, nickte nur und nahm die Lanze mit der Adlerflagge entgegen, die ihm gereicht wurde. Er durfte sie während des gesamten Rittes nicht verlieren, und wenn ihm die Jungfrau Maria freundlich gesinnt war, konnte er seine Lanze an der Ziellinie gegen den Cencio eintauschen. War die Jungfrau jedoch eifersüchtiger Stimmung, dann würde er mit seiner Fahne als Letzter vor der Kathedrale eintreffen und dafür als Zeichen seiner Schande ein Schwein entgegennehmen müssen.
    Genau in dem Moment, als man ihm seinen

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