Julia
aufmunternd, andere das genaue Gegenteil waren -, ritt Romeo mitten durch die Staubwolke, wobei er dem Pferd die Zügel locker ließ und betete, es möge sich für diese Geste erkenntlich zeigen.
Comandante Marescotti war ganz bewusst ein Risiko eingegangen, als er seinem Sohn einen Hengst gab. Mit einer Stute oder einem Wallach hätte Romeo ebenfalls gute Chancen gehabt, doch wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, reichen gute Chancen nicht aus. Mit einem Hengst hieß es alles oder nichts. Es war durchaus denkbar, dass sich Cesare im Lauf des Rennens mit einem anderen Hengst anlegte, eine Stute verfolgte oder sogar seinen Reiter abwarf, um dem Jungen zu zeigen, wer der Herr war. Andererseits aber besaß er das zusätzliche Quentchen Kraft, das oft nötig war, um sich aus einer gefährlichen Situation zu retten, und - was noch wichtiger war - den Geist eines Siegers.
Darüber hinaus besaß Cesare noch eine andere Eigenschaft, die beim Palio unter normalen Umständen überhaupt keine Rolle spielte, Romeo nun aber die einzige Möglichkeit zu bieten schien, wie er jemals hoffen konnte, das Feld wieder einzuholen: Das Pferd war ein ungewöhnlich kraftvoller Springer.
Die Regeln des Palio besagten nichts darüber, dass man auf dem üblichen Weg bleiben musste. Solange ein Teilnehmer in Fontebecci losritt und an der Kathedrale von Siena eintraf, kam er als Gewinner des Preises in Frage. Es hatte bisher nicht die Notwendigkeit bestanden, die genaue Route festzulegen, weil noch nie jemand närrisch genug gewesen war, die Straße zu verlassen. Auf den Feldern, die sich zu beiden Seiten erstreckten, war der Boden uneben, außerdem graste dort viel Weidevieh oder es lagen Haufen trocknenden Heus herum. Das größte Problem aber war, dass es jede Menge Zäune und Gatter gab. Eine Abkürzung über die Felder zu wagen bedeutete in anderen Worten, sich einer Armee von Hindernissen zu stellen - Hindernissen, die einem Reiter in einer leichten Tunika vielleicht sogar Freude bereiteten, für ein Pferd, auf dessen Rücken ein Ritter mit Plattenpanzer und Lanze saß, jedoch tödlich waren.
Romeo zögerte nicht lange. Die vierzehn anderen Reiter waren gerade in Richtung Südwesten unterwegs, weil die Straße in diesem Bereich eine gut drei Kilometer lange Kurve machte, ehe sie schließlich die Porta Camollia erreichte.
Das war seine Chance.
Sobald er eine Lücke in der schreienden Zuschauermenge entdeckte, lenkte er Cesare von der Straße auf ein bereits abgeerntetes Kornfeld und steuerte schnurstracks auf das Stadttor zu.
Das Pferd genoss die Herausforderung und bewies beim Galopp über das Feld wesentlich mehr Elan als zuvor auf der Straße. Als Romeo den ersten Holzzaun auftauchen sah, riss er sich den Adlerhelm vom Kopf und warf ihn im Vorbeireiten in einen Heuhaufen. Die einzige Regel, die es hinsichtlich der Ausrüstung eines Reiters gab, betraf die Lanze mit den Familienfarben. Kampfmontur und Helm trugen die Teilnehmer lediglich aus Gründen des Selbstschutzes. Romeo war klar, dass er ohne Helm völlig schutzlos den Angriffen der anderen Reiter ausgesetzt war und ihn auch die Gegenstände, die aus den Turmbauten der Stadt mutwillig herabgeworfen wurden, viel leichter verletzen konnten, doch gleichzeitig wusste er, dass es das Pferd, so stark es auch war, niemals bis in die Stadt schaffen würde, wenn er nicht Gewicht abwarf.
Cesare flog über den ersten Zaun, doch die Landung auf der anderen Seite fiel recht unsanft aus, so dass Romeo keine Zeit verlor, sondern eilig die Brustplatte von seinen Schultern löste und mitten in den Schweinepferch warf, durch den er gerade preschte. Die nächsten beiden Zäune waren niedriger als der erste. Während das Pferd mit Leichtigkeit hinübersprang, hielt Romeo die Lanze hoch über dem Kopf, damit sie ja nicht an den Zaunlatten hängen blieb. Die Lanze mit den Marescotti-Farben zu verlieren bedeutete, das Rennen zu verlieren, selbst wenn er als Erster das Ziel erreichte.
Alle, die ihn an jenem Tag sahen, hätten schwören können, dass Romeo das Unmögliche versuchte. Die dank der Abkürzung eingesparte Wegstrecke wurde durch die vielen Sprünge wieder zunichtegemacht, und wenn er erst einmal zurück auf der Straße war, würde er sich - bestenfalls - genauso weit hinter den anderen Reitern befinden wie vorher. Ganz zu schweigen von dem Schaden, den das Pferd dadurch genommen hatte, dass es in der Augusthitze über Stock und Stein galoppieren und verrückte Sprünge absolvieren
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