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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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noch in den Händen der heiligen Jungfrau, ihren Favoriten zu beschützen.
    Während sich die fünfzehn Pferde entlang des Seils aufreihten, begann die Menge die Namen ihrer Favoriten, aber auch ihrer Feinde zu skandieren. Jede Adelsfamilie hatte ihre Anhänger und ihre Gegner. Keines der Häuser war allseits beliebt oder geächtet, sogar die Salimbenis besaßen eine Gefolgschaft aus devoten Kunden. Bei Gelegenheiten wie diesen erwarteten die reichen, ehrgeizigen Männer als Dank für die Großzügigkeit, die sie das ganze Jahr über walten ließen, leidenschaftlich zum Ausdruck gebrachte öffentliche Unterstützung.
    Von den Reitern, die sich entlang des Seils aufreihten, konzentrierten sich die meisten ausschließlich auf den vor ihnen liegenden Weg. Manche suchten noch einmal Augenkontakt, andere vermieden ihn. Schutzheilige wurden mobilisiert wie die Heuschrecken über Ägypten und letzte Beleidigungen wie Geschosse in Richtung eines sich schließenden Stadttors geschleudert. Die Zeit für Gebete war vorbei, es wurden keine Ratschläge mehr erteilt, und geschlossene Pakte ließen sich nun nicht mehr lösen. Welche Dämonen die kollektive Seele des Volkes von Siena auch heraufbeschworen haben mochte, ob gut oder böse, ihnen allen war Leben eingehaucht worden, und nur die Schlacht selbst, das Rennen, konnte für Gerechtigkeit sorgen. Es gab kein Gesetz mehr außer dem Schicksal, keine Rechte außer dem Recht des vom Glücke Begünstigten. Die einzige Wahrheit, die es noch zu wissen lohnte, war der Sieg.
    »Möge heute der Tag sein«, dachte Maestro Ambrogio, »an welchem Ihr, göttliche Jungfrau, Eure Krönung im Himmel feiert, indem Ihr gegenüber uns armen Sündern, alt wie jung, Milde walten lasst. Ich bitte Euch, Mitleid mit Romeo Marescotti zu haben und ihn vor den Mächten des Bösen zu bewahren, die im Begriff sind, diese Stadt aus ihren eigenen Eingeweiden heraus aufzufressen. Wenn Ihr ihn leben lasst, verspreche ich Euch, den Rest meiner Tage Eurer Schönheit zu weihen. Doch stirbt er heute, dann geschieht es durch meine Hand, und aus Kummer und Scham wird diese Hand nie wieder malen.«
     
    Während Romeo mit dem Adlerbanner zur Startlinie ritt, spürte er, wie sich das klebrige Netz einer Verschwörung immer enger um ihn zog. Alle hatten die dreisten Worte gehört, mit denen er Salimbeni herausgefordert hatte, und alle wussten, dass die unweigerliche Folge eine Familienfehde war. In Anbetracht des Einflusses der hier Streitenden fragten sich die meisten Leute nicht so sehr, wer das Rennen gewinnen würde, sondern wer am Ende wohl noch am Leben blieb.
    Romeo ließ den Blick über die anderen Reiter schweifen und versuchte, seine Chancen abzuschätzen. Der zunehmende Mond - Tolomeis Sohn Tebaldo - war ganz offensichtlich im Bunde mit dem Diamanten - Salimbenis Sohn Nino -, und selbst aus den Augen des Hahnes und des Stieres starrte ihm, Romeo, Verrat entgegen. Nur die Eule nickte ihm mit dem ernsten Mitgefühl eines Freundes zu, was jedoch nicht viel zählte, denn die Eule hatte viele Freunde.
    Als das Seil fiel, befand sich Romeo noch nicht einmal ganz im offiziellen Startbereich. Er war so sehr damit beschäftigt gewesen, die anderen Reiter zu mustern und ihre Pläne abzuschätzen, dass er gar nicht richtig auf den Mann geachtet hatte, der für den Start verantwortlich war. Allerdings begann der Palio jedes Mal mit vielen Fehlstarts, und der Verantwortliche hatte für gewöhnlich keine Skrupel, alle ein Dutzend Mal zurückzurufen und erneut starten zu lassen. Im Grunde war das alles Teil des Spiels.
    Nicht so heute. Zum ersten Mal in der Geschichte des Palio ertönte nach dem ersten Start keine Fanfare, die ihn für ungültig erklärte: Trotz der Tatsache, dass allgemeine Verwirrung herrschte und ein Pferd zurückblieb, durften die anderen vierzehn weiterreiten. Das Rennen war also im Gange. Romeo, der zu schockiert war, um wegen dieser Ungerechtigkeit mehr als ein kurzes Aufflammen von Wut zu verspüren, brachte die Lanze in Position, bis sie fest unter seinem Arm saß, gab dem Pferd die Sporen und nahm die Verfolgung auf.
    Das Feld hatte so großen Vorsprung, dass nicht zu erkennen war, wer es anführte. Durch den Augenschlitz seines Helms sah Romeo nichts als Staub und ungläubige, ihm zugewandte Gesichter. Sämtliche Zuschauer hatten fest damit gerechnet, den jungen Liebenden zu diesem Zeitpunkt bereits weit vor seinen Rivalen zu sehen.
    Ohne auf ihre Zurufe und Gesten zu achten - von denen einige

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