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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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und betrachtete mich mit einem leichten Stirnrunzeln. »Wenigstens kennen Sie jetzt den Namen Ihres Verfolgers. Deswegen sind Sie doch heute Nachmittag zu mir gekommen, nicht wahr?«
    Während wir auf der Polizeiwache waren, hatte die Nacht ihren dunklen Mantel über die Welt gebreitet, aber die Luft war noch warm, und die Straßenlampen tauchten alles in ein sanftes gelbes Licht. Wären nicht aus allen Richtungen Vespas an uns vorbeigeschossen, hätte man die ganze Piazza für eine Opernbühne halten können - kurz vor dem Einsetzen der Musik und dem ersten Auftritt des Helden.
    »Was bedeutet >fìdanzata    Alessandro schob die Hände in die Taschen und setzte sich in Bewegung. »Ich habe Sie als meine Freundin ausgegeben, weil ich dachte, dann würden sie am ehesten aufhören, nach Ihrer Sozialversicherungsnummer zu fragen. Und nach Ihrer Telefonnummer.«
    Ich musste lachen. »Haben die beiden sich denn gar nicht gewundert, was um alles in der Welt Julia mit einem Salimbeni zu schaffen hat?«
    Obwohl Alessandro lächelte, spürte ich, dass er meine Frage gar nicht so lustig fand. »Ich fürchte, an der hiesigen Polizeiakademie steht Shakespeare nicht auf dem Lehrplan.«
    Wir marschierten eine Weile schweigend dahin, ohne ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Eigentlich wäre es langsam an der Zeit gewesen, sich zu verabschieden, aber mir war noch nicht nach Abschied zumute. Ganz unabhängig von der Tatsache, dass in meinem Hotelzimmer höchstwahrscheinlich Bruno Carrera auf mich wartete, erschien es mir einfach das Normalste der Welt zu sein, in Alessandros Nähe zu bleiben.
    »Wäre jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt«, fragte ich, »um mich bei Ihnen zu bedanken?«
    »Jetzt?« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Assolutamente sì. Der perfekte Zeitpunkt.«
    »Was halten Sie davon, wenn ich Sie zum Abendessen einlade?«
    Mein Vorschlag amüsierte ihn. »Gerne. Es sei denn, Sie hängen lieber auf Ihrem Balkon herum und warten auf Romeo?«
    »Über meinen Balkon ist jemand eingebrochen. Haben Sie das vergessen?«
    »Verstehe.« Seine Augen verengten sich leicht. »Sie wollen, dass ich Sie beschütze.«
    Ich öffnete den Mund, um irgendetwas Freches zu erwidern, merkte aber gerade noch rechtzeitig, dass ich das gar nicht wollte. Die Wahrheit war, dass ich mir angesichts dessen, was alles passiert war und womöglich noch passieren würde, nichts sehnlicher wünschte, als während meiner restlichen Zeit in Siena allerhöchstens eine Armlänge von Alessandro - samt seiner Waffe - entfernt zu sein. »Tja«, sagte ich und schluckte meinen Stolz hinunter, »ich glaube fast, da hätte ich nichts dagegen einzuwenden.«
     

IV.IV
    Ihr seid ein Liebender; borgt Amors Flügel
    Und schwebet frei in ungewohnten Höhn
     
    Siena, im Jahre 1340
     
    Es war der Tag des Palio, und die Leute von Siena trieben fröhlich auf einem Meer des Gesangs dahin. Jede Straße hatte sich in einen Fluss verwandelt, jeder Platz in einen Strudel religiöser Ekstase, und alle, die sich von der Strömung mitreißen ließen, schwenkten eifrig ihre Fahnen und Banner - in der Hoffnung, aus allem Seichten emporzusteigen und auf den wandelbaren Wellen Fortunas hinaufzureiten, um von dort den Arm nach der Mutter im Himmel auszustrecken und ihre sanfte Berührung zu spüren.
    Die Flut aus frommen Menschen hatte längst die Tore der Stadt durchbrochen und sich hinaus auf das Land bis nach Fon-tebecci ergossen, einige Kilometer nördlich der Porta Camollia gelegen. Hier sah ein wogender Ozean aus Köpfen gespannt zu, wie die fünfzehn Reiter des Palio in voller Kampfmontur aus ihren Zelten traten, bereit, die neu gekrönte Jungfrau mit einer schneidigen Demonstration männlichen Mutes zu ehren.
    Maestro Ambrogio hatte fast den ganzen Vormittag gebraucht, um die Stadt zu verlassen, indem er sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte. Hätte er sich in der Sache weniger schuldig gefühlt, dann hätte er bereits auf der ersten Hälfte der Wegstrecke tausendmal aufgegeben und kehrtgemacht. Aber das durfte er nicht. Wie erbärmlich der alte Künstler sich an diesem Morgen fühlte! Welch entsetzlicher Fehler es doch gewesen war, sich in die Angelegenheiten dieser jungen Leute einzumischen! Hätte er es nicht so eilig gehabt, um der Schönheit willen Schönheit mit Schönheit zu paaren, dann hätte Romeo nie erfahren, dass Giulietta noch lebte, und sie wäre ihrerseits nie von seiner Leidenschaft mitgerissen

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