Julia
musste.
Zum Glück war Romeo nicht bewusst, wie schlecht seine Chancen standen. Er wusste auch nicht, dass er es nur ganz besonderen Umständen verdankte, dass er, als er schließlich wieder auf die Straße stieß, die Führung des Feldes übernahm.
Irgendwo entlang des Weges hatte ein namenloser Zuschauer direkt vor den Palio-Reitern eine Schar Gänse laufen lassen, und in dem wilden Durcheinander, das folgte, wurden auf einen bestimmten Reiter - der zu einem bestimmten turmbewehrten Haus gehörte - aus Rache für einen ähnlichen Vorfall im Vorjahr höchst zielsicher ein paar faule Eier abgefeuert. Solche Streiche waren Teil des Palio, hatten jedoch nur selten ernsthafte Auswirkungen auf das Rennen.
Manche Leute sahen all diese Dinge als Zeichen für das Eingreifen der Jungfrau Maria: die Gänse, die Verzögerung und Romeos wundersamen Flug über sieben Zäune. Die vierzehn Reiter aber, die brav dem Weg gefolgt waren, mussten Romeos plötzliches Auftauchen vor ihnen zwangsläufig für ein Werk des Teufels halten. Erfüllt von loderndem Hass, jagten sie hinter ihm her, während sich die Straße langsam verengte, um schließlich alle durch den Torbogen der Porta Camollia zu schleusen.
Nur die Jungen, die auf die Mauer des Stadttores geklettert waren, hatten den letzten Teil von Romeos waghalsigem Ritt mit eigenen Augen verfolgen können, und egal, zu wem sie bis dahin gehalten hatten, egal, wem die Loyalität oder der Hass ihrer unten versammelten Verwandtschaft galt, diese Jungen konnten nicht anders, als dem wagemutigen Herausforderer zuzujubeln, während er unter ihnen durch das Tor schoss - ohne Rüstung und Helm äußerst verwundbar, und dicht gefolgt von einer Horde rasender Feinde.
Schon oft war ein Palio an der Porta Camollia entschieden worden: Der Reiter, welcher das Glück hatte, als Erster durch das Stadttor zu preschen, besaß recht gute Chancen, in den schmalen Straßen der Stadt die Führung zu behalten und als Sieger auf der Piazza del Duomo anzukommen. Die größte Herausforderung waren ab jetzt die Turmbauten, die zu beiden Seiten der Straße emporragten. Obwohl das Gesetz vorschrieb, dass ein Turm, von dem absichtlich Gegenstände geworfen wurden, niederzureißen war, flogen immer wieder Blumentöpfe und Ziegelsteine - wie durch ein Wunder oder die Hand des Teufels, je nachdem, mit wem man im Bunde war - auf Rivalen, die unten auf der Straße vorbeiritten. Trotz der entsprechenden gesetzlichen Bestimmung wurden derartige Vergehen selten bestraft, denn nur wenige Verantwortliche der Stadt hatten je versucht, einen nüchternen und einstimmigen Bericht über die Ereignisse einzuholen, die zu Unfällen entlang der Palio-Rennstrecke geführt hatten.
Während Romeo als Erster durch das schicksalhafte Tor nach Siena hineinritt, war ihm nur allzu bewusst, dass er sich damit den Befehlen seines Vaters widersetzte. Schließlich hatte ihn Comandante Marescotti genau aus diesem Grund angewiesen, nicht die Führung des Feldes zu übernehmen: weil die Gefahr bestand, dass von den Türmen Wurfgeschosse auf ihn herabstürzen würden. Selbst mit einem Helm auf dem Kopf konnte ein Mann von einem gut gezielten Terrakottakübel ohne weiteres aus dem Sattel geworfen werden. Ohne Helm war er mit Sicherheit tot, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.
Doch Romeo konnte nicht zulassen, dass die anderen ihn überholten. Er hatte so hart gekämpft, um Zeit wettzumachen und die Führung zu übernehmen, dass ihm die Vorstellung, auf die vierte Position zurückzufallen - selbst im Interesse von Strategie und Selbsterhalt - ebenso zuwider war wie gänzlich aufzugeben und die anderen das Rennen ohne ihn beenden zu lassen.
Deshalb gab er dem Pferd die Sporen und donnerte in die Stadt, wobei er das Meer aus Menschen teilte wie Moses den Ozean. Er nahm sich nicht die Zeit, sein Tempo zu drosseln, um erst einmal zu prüfen, ob der Weg passierbar war, sondern vertraute stattdessen darauf, dass ihm die heilige Jungfrau mit ihren himmlischen Helfern eine Schneise bahnen und ihn vor jeglichem von oben herabfallenden Übel bewahren würde.
Er sah keine Gesichter, keine Gliedmaßen, keine Körper, nein, Romeos Weg war gesäumt von Wänden, besetzt mit schreienden Mündern und weit aufgerissenen Augen - Mündern, aus denen dennoch kein Laut drang, und Augen, die nichts sahen als Schwarz und Weiß, Rivalen und Verbündete. Niemals würden diese Leute in der Lage sein, von den Tatsachen des Rennens zu berichten, denn für eine tobende
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