Julia
was der Ausdruck in euren
Augen bedeutet. Eure Mutter hatte ihn auch. Seid versichert, dass ich jeden Tag für euch bete.
Umberto weiß, wo sich meine Anweisungen für die Beerdigung befinden.
Gott segne eure unschuldigen Herzen!
In Liebe, Tante Rose
V.III
Und wohnt kein Mitleid droben in den Wolken,
das in die Tiefe meines Jammers schaut?
Siena, im Jahre 1340
Jiulietta, die in einem Zimmer ganz oben auf dem Tolomei-Turm eingesperrt war, erfuhr nichts von den Vorgängen unten in der Stadt. Seit dem Tag von Tebaldos Begräbnis hielt man sie dort gefangen, und niemand durfte sie besuchen. Eine der Tolomei-Wachen hatte die Fensterläden zugenagelt, und das Essen servierte man ihr durch einen Schlitz in der Tür, was allerdings kaum eine Rolle spielte, da sie - zumindest für sehr lange Zeit - nichts davon anrührte.
Während der ersten paar Stunden ihrer Gefangenschaft hatte sie alle, die sie durch die Tür hören konnten, angefleht, sie hinauszulassen. »Liebste Tante«, hatte sie gebettelt und dabei ihre tränenüberströmte Wange an die Tür gepresst, »bitte behandelt mich nicht so! Vergesst nicht, wessen Tochter ich bin! ... Liebe Cousinen? Könnt ihr mich hören?« Da ihr aber niemand zu antworten wagte, begann sie statt dessen lautstark die Wachen zu verfluchen, weil sie die Befehle eines Teufels in Menschengestalt befolgten.
Nachdem ihr niemand auch nur ein einziges Wort antwortete, verließ sie irgendwann der Mut. Schwach vor Kummer, legte sie sich auf ihr Bett und zog sich die Decke über den Kopf, konnte jedoch an nichts anderes denken als an Romeos geschundenen Leib und ihre eigene Unfähigkeit, seinen grausigen Tod zu verhindern. Erst jetzt wagten sich ängstliche Bedienstete vor ihre Tür, um ihr etwas zu essen und zu trinken anzubieten, aber Giulietta lehnte alles ab, sogar das Wasser, weil sie hoffte, auf diese Weise ihr eigenes Ableben zu beschleunigen und ihrem Geliebten ins Paradies zu folgen, ehe er einen zu großen Vorsprung hatte.
Sie glaubte, dass sie im Leben nur noch eine einzige Pflicht zu erfüllen hatte: einen geheimen Brief an ihre Schwester Giannozza zu verfassen. Es sollte ein Abschiedsbrief werden, und immer wieder fielen ihre Tränen auf das Pergament und verschmierten die Tinte, doch am Ende wurde es nur einer von vielen Briefen, die sie im Lichte eines Kerzenstumpfes schrieb und zusammen mit all den anderen unter einer losen Bodendiele versteckte. Kaum zu glauben - schrieb sie -, dass sie einst so fasziniert von dieser Welt und all ihren Bewohnern gewesen war. Inzwischen wusste sie, dass Bruder Lorenzo die ganze Zeit recht gehabt hatte. »Die sterbliche Welt ist eine Welt des Staubes«, sagte er immer. »Wo man auch hintritt, bröckelt sie einem unter den Füßen weg, und wenn man nicht aufpasst, verliert man das Gleichgewicht und stürzt über den Rand in den Limbus.« Gewiss befand sie sich gerade in diesem Limbus, dachte Giulietta - dem Abgrund, aus dem keine Gebete zu hören waren.
Ihrer Schwester Giannozza war diese Art von Elend keineswegs fremd. Obwohl ihr Vater die fortschrittliche Einstellung vertreten hatte, seine Töchter sollten des Lesens und Schreibens mächtig sein, war er ein altmodischer Mann gewesen, wenn es um das Thema Ehe ging. Töchter waren in seinen Augen Gesandte, die man in die Welt hinausschicken konnte, um an fernen Orten Bündnisse mit wichtigen Menschen aufzubauen. Daher hatte er, als eines Tages der Cousin seiner Frau - ein Edelmann mit einem großen Anwesen nördlich von Rom - Interesse an engeren Banden mit den Tolomeis bekundete, Giulietta darüber informiert, dass sie heiraten musste. Schließlich war sie vier Minuten älter als ihre Schwester und hatte somit als Älteste die Pflicht, als Erste zu gehen.
Nach dieser Hiobsbotschaft mussten die Schwestern tagelang weinen. Beiden graute davor, auseinandergerissen zu werden und so weit voneinander entfernt leben zu müssen, doch ihr Vater ließ sich nicht umstimmen, und ihre Mutter noch viel weniger - schließlich handelte es sich bei dem Bräutigam um ihren Cousin und keinen Fremden. Am Ende traten die Mädchen mit einem bescheidenen Vorschlag an ihre Eltern heran.
»Vater«, sagte Giannozza, die als Einzige die Kühnheit besaß, ihr Anliegen vorzutragen, »Giulietta fühlt sich durch die Pläne, die Ihr mit ihr habt, sehr geehrt, bittet Euch aber dennoch, in Betracht zu ziehen, ob es nicht besser wäre, statt ihrer mich zu schicken. Wie Ihr wisst, war es seit jeher ihr
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