Julia
beschlossen zu sterben und jede Nahrung zu verweigern, bis ihr Körper den Geist aufgab und ihre Seele freisetzte, so dass sie sich wieder mit Romeo vereinigen konnte. Doch am dritten Tag ihres Hungerstreiks, als ihre Lippen bereits ganz ausgedörrt waren und es in ihrem Kopf zu pochen begann, machte ihr plötzlich ein neuer Gedanke Angst: Wohin genau würde sie sich im Paradies wenden müssen, um ihn zu finden? Gewiss handelte sich dabei um einen sehr großen Ort - anders konnte es gar nicht sein -, und es war auch keineswegs gesagt, dass man sie beide in dieselbe Region schicken würde. Sie fürchtete fast, dem würde nicht so sein.
Auch wenn sie in den Augen Gottes vielleicht nicht völlig ohne Makel war, so blieb sie dennoch ein unschuldiges Mädchen. Romeo dagegen hatte zweifellos eine lange Spur des Unfugs hinterlassen. Außerdem war er nicht richtig bestattet worden, und niemand hatte über seiner Leiche ein Gebet gesprochen, so dass es ohnehin fraglich war, ob er überhaupt ins Paradies kommen würde. Womöglich war er dazu verdammt, in seinem verwundeten, blutigen Zustand als Geist umzugehen, bis - wenn überhaupt - irgendein barmherziger Samariter Mitleid mit ihm hatte und seine Leiche zur Ruhe bettete.
Keuchend setzte Giulietta sich in ihrem Bett auf. Wer sollte dafür sorgen, dass Romeo angemessen bestattet wurde, wenn sie jetzt starb? Damit überließ sie es den Tolomeis, beim nächsten Familienbegräbnis - höchstwahrscheinlich ihrem eigenen -seinen Leichnam zu entdecken. Bestimmt würden sie ihm alles andere als Frieden zuteilwerden lassen.
Nein, dachte sie, während sie endlich mit zitternder Hand nach dem Wasserkrug griff, sie musste am Leben bleiben, bis sie mit Bruder Lorenzo gesprochen und ihm die Lage erklärt hatte.
Wo um alles in der Welt steckte der Mönch? In ihrem Elend hatte Giulietta mit niemandem sprechen wollen, nicht einmal mit ihrem alten Freund. Sie war richtig erleichtert darüber gewesen, dass er sie nie besuchen kam. Nun aber - nachdem sie ihr Herz an einen Plan gehängt hatte, den sie unmöglich alleine ausführen konnte - überkam sie schlagartig Zorn, weil er nicht an ihrer Seite war. Erst später, nachdem sie alles verschlungen hatte, was sie in ihrer Kammer an Essbarem finden konnte, fiel ihr ein, dass ihr Onkel Tolomei dem Mönch vermutlich jeden Besuch bei ihr untersagt hatte, um auf diese Weise zu verhindern, dass er Einzelheiten über ihr Elend verbreitete.
Während sie jetzt rastlos im Raum umherwanderte und nur gelegentlich stehenblieb, um durch eine Ritze zwischen den -zugenagelten - Fensterläden hinauszuspähen, um festzustellen, welche Tageszeit gerade war, gelangte Giulietta schließlich zu dem Ergebnis, dass der Tod würde warten müssen. Nicht, weil sie den Wunsch verspürte zu leben, sondern weil es noch zwei Aufgaben im Leben gab, die nur sie erfüllen könnte. Eine davon war, Kontakt mit Bruder Lorenzo - oder einem anderen heiligen Mann, der lieber das Gesetz Gottes als das ihres Onkels befolgte - aufzunehmen und mit seiner Hilfe dafür zu sorgen, dass Romeo angemessen bestattet wurde. Die andere bestand darin, Salimbeni so leiden zu lassen, wie noch kein Mann vor ihm gelitten hatte.
Monna Agnese starb an Allerheiligen, nachdem sie über ein halbes Jahr an ihr Bett gefesselt gewesen war. Manche flüsterten sich zu, die arme Dame sei nur so lange am Leben geblieben, um ihren Gatten zu ärgern, Messer Salimbeni, dessen neues Hochzeitsgewand schon bereitlag, seit er sich im August mit Giulietta Tolomei verlobt hatte.
Die Bestattung fand auf Rocca di Tentennano statt, der uneinnehmbaren Salimbeni-Festung im Orcia-Tal. Kaum hatte der Witwer Erde auf den Sarg geworfen, als er auch schon mit der nervösen Eile eines geflügelten Amor nach Siena aufbrach. Nur ein einziger Sprössling begleitete ihn zurück in die Stadt: sein neunzehnjähriger Sohn Nino, Gerüchten zufolge bereits ein hartgesottener Palio-Mörder. Ninos Mutter war Monna Agnese ein paar Jahre zuvor ins Salimbeni-Grab vorausgegangen, nachdem sie einem ähnlichen Leiden anheimgefallen war - gemeinhin bekannt als Vernachlässigung.
Obwohl die Tradition nach einem derartigen Verlust eigentlich eine angemessene Trauerzeit erforderlich machte, waren nur wenige Leute überrascht, den großen Mann schon so bald wieder in der Stadt zu sehen. Salimbeni war bekannt für seine Geschwindigkeit in solchen Dingen: Während andere Männer den Tod einer Ehefrau oder eines Kindes tagelang betrauerten,
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