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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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sicher sein. Eines aber stand fest: Wenn er davonlief und sich versteckte, bekannte er sich dadurch eindeutig schuldig und konnte - einmal auf der Flucht - nie wieder in die Stadt zurückkehren, die er mehr als jede andere liebte.
    Daher hielt der Maler in seinem Atelier nach belastenden Beweisen Ausschau. Sein Blick wanderte von Giuliettas Porträt zu seinem Tagebuch, das auf dem Tisch lag. Nachdem er rasch eine letzte Passage hinzugefügt hatte - ein paar wirre Sätze über die Ereignisse, deren Zeuge er in dieser Nacht geworden war -, nahm er das Buch und das Porträt, umwickelte beides mit Tuch und legte das so entstandene Päckchen in eine luftdicht verschließbare Kiste. Diese versteckte er daraufhin in einem Hohlraum in der Wand, wo sie gewiss kein anderer jemals finden würde.
     

VI.I
    Kann ich von hinnen, da mein Herz hier bleibt?
    Geh, frostge Erde, suche deine Sonne!
     
    Janice hatte nicht gelogen, als sie sagte, sie sei gut im Klettern.
    Aus irgendeinem Grund war ich bei den Postkarten, die sie mir von exotischen Orten schickte, immer leicht skeptisch, es sei denn, sie erzählten von Enttäuschung und Ausschweifung. Ich stellte mir meine Schwester lieber sturzbetrunken in einem Hotel in Mexiko vor als beim Schnorcheln in Korallenriffen, wo das Wasser so sauber war, dass man - wie sie einmal, allerdings nicht mir, sondern Tante Rose geschrieben hatte - als schmutziger alter Sünder hineinstieg und sich beim Herauskommen fühlte wie Eva an ihrem ersten Morgen im Paradies, bevor Adam mit der Zeitung und den Zigaretten auftauchte.
    Während ich ihr von meinem Balkon aus zusah, wie sie mühsam heraufkletterte, wurde mir schlagartig bewusst, wie sehr ich mich auf die Rückkehr meiner Schwester gefreut hatte. Nachdem ich mindestens eine Stunde lang nervös in meinem Zimmer auf und ab getigert war, hatte sich mir die frustrierende Erkenntnis aufgedrängt, dass ich alleine einfach nicht imstande war, mir einen Reim auf die Situation zu machen.
    Das war schon seit jeher so. Jedes Mal, wenn ich als Kind versuchte, Tante Rose meine Probleme zu schildern, machte sie zwar ein riesengroßes Tamtam, kam aber nie zu einer Lösung, so dass ich mich am Ende viel schlimmer fühlte als vorher. Nervte mich in der Schule ein Junge, dann hängte sie sich an die Strippe und verlangte vom Direktor und sämtlichen Lehrkräften, dass sie mit den Eltern sprachen. Janice dagegen - die unser Gespräch rein zufällig belauschte - meinte bloß achselzuckend:
    »Er ist eben in sie verknallt. Der beruhigt sich schon wieder. Was gibt es denn heute zum Abendessen?« Und sie hatte immer recht, auch wenn ich das nur ungern zugab.
    Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie auch jetzt wieder recht. Ihre abfälligen Bemerkungen über Alessandro und Eva Maria gefielen mir zwar gar nicht, aber irgendjemand musste diese Bemerkungen nun mal machen, und ich selbst war dazu nicht imstande, weil ich mich hoffnungslos hin und her gerissen fühlte.
    Von ihrer waghalsigen Kletterei außer Atem, griff Janice bereitwillig nach der Hand, die ich ihr entgegenstreckte, und schaffte es schließlich, ein Bein über die Brüstung zu schwingen. »So süß ...«, stöhnte sie, während sie auf der anderen Seite wie ein Sack Kartoffeln niederplumpste und keuchend auf dem Boden sitzen blieb, »ist Kletterwehe!«
    »Warum hast du nicht die Treppe benutzt?«, fragte ich.
    »Sehr witzig!«, gab sie zurück. »Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass da draußen ein Massenmörder herumläuft, der mich auf den Tod nicht ausstehen kann.«
    »Jetzt hör aber auf«, entgegnete ich, »wenn Umberto danach zumute gewesen wäre, uns den Hals umzudrehen, hätte er das längst tun können.«
    »Man weiß nie, wann solche Leute ausrasten!« Janice stand auf und zog sich die Kleider zurecht. »Vor allem jetzt, wo wir Moms Truhe haben. Ich plädiere dafür, prontissimo von hier zu verschwinden und ...« Erst jetzt sah sie mir ins Gesicht und bemerkte meine roten, verquollenen Augen. »Lieber Himmel, Jules!«, rief sie. »Was ist denn passiert?«
    »Nichts«, antwortete ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Ich habe nur gerade die Geschichte von Romeo und Giulietta fertig gelesen. Tut mir leid, wenn ich dir die Spannung verderbe, aber es gibt kein Happy End. Nino will Giulietta verführen - oder vergewaltigen -, und kurz bevor Romeo hereinrauscht, um sie zu retten, nimmt sie eine tödliche Dosis Schlafmittel.«
    »Was zum Teufel hast du erwartet?« Janice ging hinein, um sich

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