Julia
Beziehungen«, murmelte ich. »Solltest du vielleicht auch mal probieren.«
Janice verdrehte die Augen. »Und das sagst ausgerechnet du!«
Während ich noch über eine passende Antwort nachdachte, bemerkten wir plötzlich beide, dass unsere Zielperson verschwunden war.
»O nein!«, keuchte Janice. »Wo ist er bloß hin?«
Wir hasteten zu der Stelle, wo wir Alessandro eben noch gesehen hatten - praktisch direkt gegenüber Luigis Friseursalon - und entdeckten die winzigste, dunkelste Gasse von ganz Siena.
»Kannst du ihn sehen?«, flüsterte ich aus meiner Deckung hinter Janices Rücken.
»Nein, aber woanders kann er ja nicht hin sein.« Sie packte mich an der Hand und zerrte mich weiter. »Los!«
Während wir auf Zehenspitzen die überdachte Gasse entlangschlichen, musste ich wider Willen kichern. Als Kinder hatten wir auch immer Hand in Hand die Gegend unsicher gemacht. Janice bedachte mich mit einem strengen Blick, weil sie befürchtete, er könnte uns hören, doch als sie mein lachendes Gesicht sah, entspannte sie sich ein wenig und begann ebenfalls zu kichern.
»Nicht zu fassen, was wir gerade tun!«, flüsterte ich. »Das ist so peinlich!«
»Schhh!«, zischte sie. »Ich glaube, wir sind hier in einem üblen Viertel.« Sie nickte zu den Graffiti hinüber, die an einer der Hauswände prangten. »Was bedeutet galleggiante? Klingt ziemlich obszön. Und was zum Teufel ist '92 passiert?«
Vor uns machte die Gasse einen scharfen Rechtsknick, so dass wir kurz stehen blieben und lauschten, ob Schritte zu hören waren. Janice spähte sogar um die Ecke, zog den Kopf aber sehr schnell wieder zurück.
»Hat er dich gesehen?«, flüsterte ich.
Janice rang aufgeregt nach Luft. »Komm!« Sie zog mich am Arm um die Ecke, und wir liefen nervös weiter, bis wir plötzlich Leute sahen, die um ein Pferd herumstanden.
Tatsächlich befand sich am hinteren Ende der schmalen Gasse, wo ein paar helle Sonnenstrahlen auf das antike Pflaster fielen, ein kleiner Stall mit einem Pferd. Von Alessandro war jedoch nichts mehr zu sehen.
»Halt!« Ich stieß Janice gegen eine Wand. »Vorsicht, diese Typen ...«
Ohne meine Zustimmung abzuwarten, stieß Janice sich von der Hauswand ab und marschierte auf die Männer zu, die mit dem Pferd beschäftigt waren. Da Alessandro nirgends auftauchte, rannte ich hinter ihr her und versuchte sie am Arm festzuhalten.
»Bist du verrückt?«, zischte ich. »Das ist vermutlich ein Pferd für den Palio, und diese Leute wollen bestimmt nicht, dass hier Touristen herumrennen und ...«
»Oh, ich bin keine Touristin«, erwiderte Janice, die meine Hand ungeduldig abschüttelte und weiterging, »ich bin Journalistin.«
»Nein! Jan, warte!«
Während sie auf die Männer zusteuerte, die das Pferd bewachten, empfand ich eine seltsame Mischung aus Bewunderung und Mordlust. Das letzte Mal hatte ich so gefühlt, als wir in die Neunte gingen und Janice spontan einen Jungen aus unserer Klasse anrief, nachdem ich beiläufig erwähnt hatte, dass ich ihn mochte.
In dem Moment öffnete direkt über uns jemand Fensterläden. Sobald ich begriff, dass das Alessandro war, sprang ich zurück an die Wand und zerrte Janice mit mir. Die Vorstellung, er könnte uns dabei ertappen, wie wir nach Art verliebter Teenager in seinem Viertel herumschnüffelten, erfüllte mich mit Entsetzen.
»Nicht hochsehen!«, flüsterte ich, immer noch ganz panisch, weil wir nur um Haaresbreite der Entdeckung entgangen waren. »Ich glaube, er wohnt dort oben, im zweiten Stock. Mission erfüllt, Fall abgeschlossen. Zeit zu gehen.«
»Was meinst du mit Mission erfüllt?« Mit leuchtenden Augen lehnte Janice sich zurück, um zu Alessandros Fenster hinauf-zuspähen. »Wir sind hergekommen, um herauszufinden, was er im Schilde führt. Ich würde sagen, wir bleiben hier.« Mit diesen Worten steuerte sie auf den nächstgelegenen Eingang zu. Nachdem sich die Tür problemlos öffnen ließ, zog Janice selbstzufrieden die Augenbrauen hoch und trat ein. »Los, komm schon!«
»Bist du jetzt komplett durchgedreht?« Nervös schielte ich zu den Männern hinüber. Sie fragten sich offensichtlich schon, wer wir waren und was wir wollten. »Ich setze keinen Fuß in dieses Gebäude. Immerhin wohnt er hier!«
»Kein Problem.« Janice zuckte mit den Achseln. »Du kannst ja auf mich warten und in der Zwischenzeit den Männern Gesellschaft leisten. Ich wette, die haben nichts dagegen.«
Wie sich herausstellte, befanden wir uns nicht in einem Treppenhaus.
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