Julia
Shakespeares Stück. Wie ungemein passend.
Wir versuchten beide, die Truhe als Erste zu erreichen, doch keine von uns fand, wonach wir suchten. Erst jetzt wurde uns klar, was verschwunden war, seit wir am Nachmittag den Raum verlassen hatten: das schäbige alte Taschenbuch.
Janice war seit jeher mit einem sehr tiefen Schlaf gesegnet. Es ärgerte mich früher immer maßlos, dass sie das Läuten ihres Weckers verschlafen konnte, ohne auch nur für einen Moment hochzuschrecken und auf die Schlummertaste zu drücken. Schließlich lagen unsere Zimmer damals direkt gegenüber, und wir schliefen immer mit offenen Türen. Tante Rose besichtigte in ihrer Verzweiflung jeden Wecker, der in der Stadt zu haben war, konnte jedoch keinen auftreiben, der monströs genug gewesen wäre, um meine Schwester aus dem Bett und in die Schule zu scheuchen. Während ich einen kleinen Dornröschen-Wecker auf dem Nachtkästchen stehen hatte, bis ich ans College aufbrach, endete Janice schließlich mit einem Industrie-Gerät, das Umberto an seiner Küchentheke unter Einsatz mehrerer Zangen noch zusätzlich verstärkte, bis es schließlich klang wie der Evakuierungsalarm eines Atomkraftwerks. Trotzdem war die Einzige, die davon - meist mit einem Schreckensschrei - aufwachte, ich.
Am Morgen nach unserem Abendessen bei Maestro Lippi stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass Janice bereits wach im Bett lag und zu den ersten Lichtstreifen hinüberblickte, die sich wie goldene Klingen durch die Ritzen der Fensterläden schoben.
»Schlecht geträumt?«, fragte ich und musste an die namenlosen Geister denken, die mich die ganze Nacht lang durch mein Traumschloss gejagt hatten - ein Schloss, das immer mehr Ähnlichkeit mit der Kathedrale von Siena bekam.
»Ich konnte nicht schlafen«, antwortete sie, während sie sich mir zuwandte. »Ich habe beschlossen, heute zu Moms Haus hinunterzufahren.«
»Womit denn? Willst du dir einen Wagen mieten?«
»Nein, ich hole mir mein Bike zurück.« Sie zog mehrmals die Augenbrauen hoch, war mit dem Herzen aber sichtlich nicht bei der Sache. »Peppos Cousin ist für die beschlagnahmten Fahrzeuge zuständig. Möchtest du mitkommen?« Ihre Miene sagte mir, dass sie die Antwort bereits kannte.
Als Alessandro mich um eins abholte, saß ich bereits auf der Treppe vor dem Hotel Chiusarelli und flirtete mit der Sonne, die durch die Äste des Magnolienbaums fiel. Zu meinen Füßen stand die Tasche mit meinem Wochenendgepäck. Sobald ich seinen Wagen nahen sah, begann mein Herz zu rasen - vielleicht, weil er Romeo war, oder weil er meinem Zimmer bereits ein, zwei Besuche abgestattet hatte. Vielleicht war der Grund auch einfach, dass ich - wie Janice behauptete - dringend meinen Kopf untersuchen lassen musste. Ich war schwer versucht, alles auf das Wasser aus dem Fontebranda-Brunnen zu schieben, doch man konnte natürlich einwenden, dass mein Wahnsinn, meine pazzia, schon lange davor eingesetzt hatte. Vor mindestens sechshundert Jahren.
»Was ist mit deinen Knien passiert?«, fragte er, während er den Gehweg heraufkam und direkt vor mir stehenblieb. In Jeans und einem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln sah er alles andere als mittelalterlich aus. Selbst Umberto hätte zugeben müssen, dass Alessandro trotz seiner lässigen Aufmachung bemerkenswert vertrauenswürdig wirkte. Andererseits war Umberto - bestenfalls - ein Halunke, also warum sollte ich weiter nach seinen Moralkodex leben?
Der Gedanke an Umberto versetzte mir einen leichten Stich ins Herz. Warum besaßen die Menschen, die mir etwas bedeuteten - vielleicht mit Ausnahme von Tante Rose, die praktisch eindimensional gewesen war -, immer eine Schattenseite?
Rasch schüttelte ich die düsteren Gedanken ab und zerrte an meinem Rock, um die Spuren meines peinlichen Tauchgangs zu bedecken, der mich am Vortag - teils auf allen vieren - durch die Bottini geführt hatte. »Ich bin über die Realität gestolpert.«
Alessandro sah mich einen Moment fragend an, beugte sich dann aber wortlos hinunter und griff nach meiner Tasche. Dabei registrierte ich zum ersten Mal bewusst den Marescotti-Adler an seinem Unterarm. Kaum zu glauben, dass er schon die ganze Zeit da gewesen war und mir im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht gestarrt hatte, als ich am Fontebranda-Brunnen aus seinen Händen trank ... andererseits war die Welt voller Vögel, und ich auf diesem Gebiet gewiss keine Expertin.
Ich empfand es als seltsam, wieder in seinem Wagen zu sitzen, diesmal
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