Julia
auf dem Beifahrersitz. Seit ich zusammen mit Eva Maria in Siena angekommen war, hatte sich so viel ereignet - zum Teil Schönes, zum Teil weniger Schönes -, was ich unter anderem ihm zu verdanken hatte. Während wir aus der Stadt fuhren, brannte mir ein einziges Thema auf der Zunge, doch irgendwie schaffte ich es nicht, davon anzufangen. Mir fiel aber auch nichts anderes ein, worüber wir sprechen konnten, ohne zwangsläufig wieder auf die Mutter aller Fragen zurückzukommen: Warum hatte er mir nicht erzählt, dass er Romeo war?
Fairerweise musste ich mir eingestehen, dass ich ihm gegenüber ebenfalls nicht ganz ehrlich gewesen war. Im Grunde hatte ich ihm so gut wie gar nichts über meine - zugegebenermaßen erbärmlichen - Recherchen hinsichtlich der goldenen Statue erzählt, und gar nichts über Umberto und Janice. Aber wenigstens hatte ich ihm von Anfang an gesagt, wer ich war, und es ihm selbst überlassen, ob er mir glauben wollte oder nicht. Allerdings ... hatte ich ihm meinen italienischen Namen nur genannt, um zu verhindern, dass er meinen amerikanischen herausfand, so dass das beim großen Schuldzuweisungsspiel wohl nicht allzu sehr ins Gewicht fiel.
»Du bist heute sehr still«, bemerkte Alessandro mit einem Seitenblick auf mich. »Ich habe das Gefühl, das ist meine Schuld.«
»Du hast es noch immer nicht geschafft«, entgegnete ich und legte mein schlechtes Gewissen erst einmal ad acta, »mir von Karl dem Großen zu erzählen.«
Er lachte. »Ist das der Grund? Keine Sorge, bis wir das Orcia-Tal erreichen, weißt du mehr über mich und meine Familie, als du je wissen wolltest. Aber erzähl mir doch erst, was du schon weißt, damit ich mich nicht wiederhole.«
Aufmerksam betrachtete ich sein Profil, wurde daraus aber nicht schlau. »Du meinst, was ich über die Salimbenis weiß?«
Wie immer, wenn ich die Salimbenis erwähnte, lächelte er nur ironisch. Inzwischen war mir natürlich klar, warum. »Nein. Erzähl mir von deiner eigenen Familie, den Tolomeis. Erzähl mir alles, was du über die Vorgänge im Jahre 1340 weißt.«
Ich tat, wie mir geheißen. Während ich ihm die ganze Geschichte erzählte, die ich mir aus Maestro Ambrogios Tagebuch und Giuliettas Briefen an Giannozza zusammengereimt hatte, unterbrach er mich kein einziges Mal. Am Ende des Dramas von Rocca di Tentennano angelangt, überlegte ich kurz, ob ich auch die italienische Erzählung über die besessene Monna Mina und Bruder Lorenzos Fluch an der Wand erwähnen sollte, entschied mich aber dagegen. Die Geschichte war zu seltsam, zu deprimierend, und außerdem wollte ich nicht wieder auf die Statue mit den Edelsteinaugen zu sprechen kommen, nachdem ich ja kategorisch abgestritten hatte, irgendetwas darüber zu wissen, als er mich auf dem Polizeirevier danach gefragt hatte.
»So sind sie auf Rocca di Tentennano gestorben«, schloss ich.
»Nicht durch einen Dolch und ein Fläschchen Gift, sondern durch einen Schlaftrank und einen Speer in den Rücken. Bruder Lorenzo hat alles mit eigenen Augen gesehen.«
»Und wie viel davon«, fragte Alessandro neckend, »hast du frei erfunden?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hier und dort ein bisschen, nur um die Lücken zu füllen. Ich dachte, das macht die Geschichte unterhaltsamer. Was aber nichts an den Grundzügen ändert ...« Ich sah ihn eine Grimasse schneiden. »Was ist?«
»Die Grundzüge«, antwortete er, »sind ganz anders, als die meisten Leute glauben. Meiner Meinung nach geht es in deiner Geschichte - und auch in Romeo und Julia - nicht um Liebe, sondern um Politik. Die Quintessenz lautet ganz einfach: Wenn die alten Männer kämpfen, müssen die jungen Leute sterben.«
»Das«, meinte ich amüsiert, »ist aber eine bemerkenswert unromantische Sichtweise.«
Alessandro zuckte mit den Achseln. »Shakespeare fand das Ganze auch nicht romantisch. Denk daran, wie er die beiden darstellt. Romeo ist ein kleiner Jammerlappen und Julia die wahre Heldin. Überleg doch mal. Er trinkt Gift. Welcher richtige Mann trinkt Gift? Sie ist diejenige, die sich mit dem Dolch ersticht. Auf die männliche Art und Weise.«
Wider Willen musste ich lachen. »Auf Shakespeares Romeo mag das ja zutreffen, aber der echte Romeo Marescotti war kein Jammerlappen, sondern ein hammerharter Typ.« Gespannt auf seine Reaktion, warf ich einen raschen Seitenblick zu ihm hinüber, und ertappte ihn dabei, wie er lächelte. »Es wundert mich gar nicht, dass Giulietta ihn geliebt hat«, fügte ich
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