Julia
blind, starrte ich zu ihm hinunter.
»Lass mich los!«, stieß ich hervor, während ich krampfhaft versuchte, seine Hand wegzutreten. »Du Mistkerl! In der Hölle sollst du schmoren! Du und deine gottverdammte Patentante!«
»Komm runter!« Alessandro stand der Sinn nicht nach Verhandlungen. »Bevor du dir wehtust!«
Endlich schaffte ich es, meinen Fuß freizubekommen und mich so weit hinaufzuziehen, dass er mich nicht mehr erreichen konnte. »Und wenn schon! Du Arschloch! Lieber breche ich mir das Genick, als dass ich weiter bei deinen kranken Spielchen mitmache!«
»Komm sofort runter!« Er kletterte hinter mir her und bekam diesmal meinen Rock zu fassen. »Lass mich das alles erklären! Bitte!«
Entnervt stöhnte ich auf. Ich wollte nur weg. Was konnte er mir noch zu sagen haben? Doch nachdem er sich hartnäckig weigerte, den Saum meines Kleides loszulassen, blieb mir nichts anderes übrig, als mich weiter fest an die Eisenstangen zu klammern, obwohl ich bereits spürte, wie meine Arme und Hände langsam erlahmten.
»Giulietta. Bitte hör mir zu, ich kann dir das alles erklären ...«
Wir waren so aufeinander konzentriert, dass keiner von uns beiden mitbekam, wie auf der anderen Seite des Tores eine dritte Person aus der Dunkelheit trat. »Hände weg von meiner Schwester, Romeo!«
»Janice!« Ich war so überrascht, sie zu sehen, dass ich fast abgerutscht wäre.
»Klettere weiter!« Janice hob die auf dem Kies liegende Waffe auf. »Und du Drecksack machst dich jetzt vom Acker!«
Sie zielte durch das Tor auf Alessandro, der mich sofort losließ. Janice wirkte auch ohne Accessoires schon ziemlich kraftvoll, aber mit einer Waffe in der Hand sah sie aus wie Lara Croft persönlich.
»Vorsicht!« Alessandro sprang vom Tor und wich ein paar Schritte zurück. »Die Waffe ist geladen ...«
»Natürlich ist sie geladen!«, höhnte Janice. »Pfoten hoch, Süßer!«
»... und sie reagiert ziemlich empfindlich.«
»Ach ja? Genau wie ich! Aber weißt du, was? Das ist dein Problem! Du stehst am rauchenden Ende!«
In der Zwischenzeit quälte ich mich mühsam über das Tor, und sobald ich auf der anderen Seite weit genug unten war, ließ ich mich mit einem Schmerzensschrei neben Janice auf den Boden fallen.
»Lieber Himmel, Jules! Alles in Ordnung? Hier, nimm das ...« Janice reichte mir die Waffe. »Ich hole unseren fahrbaren Untersatz ... Nein, du Dummchen! Ziel damit auf ihn\«
Obwohl wir uns nur für ein paar Sekunden so gegenüberstanden, kam es mir vor, als stünde die Zeit still. Alessandro warf mir durch das Tor einen wehmütigen Blick zu, während ich mich nach Kräften bemühte, mit der Waffe auf ihn zu zielen, obwohl mir vor lauter Verwirrung die Tränen in die Augen traten, so dass ich kaum etwas sehen konnte.
»Gib mir das Buch«, sagte er nur. »Darum geht es ihnen. Sie werden dich nicht in Ruhe lassen, bis sie es haben. Glaub mir. Bitte versuch nicht ...«
»Komm!« Der Kies spritzte in alle Richtungen, als Janice mit dem Motorrad neben mir bremste. »Schnapp dir die Tasche und steig auf!« Als sie sah, dass ich zögerte, ließ sie ungeduldig den Motor aufheulen. »Beweg deinen Arsch hier rüber, Fräulein Julia, die Party ist vorbei!«
Wenige Augenblicke später rauschten wir auf der Ducati Monster in die Dunkelheit hinein. Als ich mich umdrehte, um einen letzten Blick zurückzuwerfen, lehnte Alessandro am Tor wie ein Mann, der gerade den wichtigsten Flug seines Lebens verpasste, weil er sich um eine lächerliche Kleinigkeit verrechnet hatte.
IX.I
Der Tod liegt auf ihr, wie ein Maienfrost
Auf des Gefildes schönster Blume liegt
Wir fuhren eine Ewigkeit dunkle Landstraßen entlang, viele Hügel hinauf und wieder hinunter, durch in Tälern schlafende Dörfer. Janice hielt kein einziges Mal an, so dass ich nicht mal wusste, wohin wir unterwegs waren. Aber es war mir auch völlig egal. Hauptsache, wir bewegten uns und ich brauchte eine Weile keine Entscheidungen zu treffen.
Als wir schließlich am Rand eines Dorfes in eine holprige Zufahrt einbogen, war ich so müde, dass ich mich am liebsten im nächsten Blumenbeet zusammengerollt und einen Monat lang geschlafen hätte. Einzig und allein der Scheinwerfer des Motorrads wies uns den Weg durch eine Wildnis aus Gestrüpp und hohem Unkraut, bis wir schließlich vor einem völlig dunklen Haus zum Stehen kamen.
Nachdem Janice den Motor ausgeschaltet und den Helm abgenommen hatte, schüttelte sie ihr Haar aus und sah mich über die Schulter
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