Julia
den Hals gehetzt, um an den Cencio zu kommen, und angesichts der Spur, die er hinterließ - wann immer er in der Nähe war, häuften sich die Todesfälle -, ging es vermutlich auch auf seine Rechnung, dass Bruno ein allerletztes Mal die Schuhbänder geschnürt hatte.
Seltsamerweise sah Umberto aus wie immer. Sogar sein Gesichtsausdruck wirkte noch genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte: ein wenig arrogant, ein wenig amüsiert, aber dennoch so verschlossen, dass man nie sagen konnte, was er insgeheim dachte.
Nicht er hatte sich verändert, sondern ich mich.
Endlich begriff ich, dass Janice, was ihn betraf, all die Jahre recht gehabt hatte: Er war ein Psychopath, der nur darauf wartete auszurasten. Im Hinblick auf Alessandro hatte sie bedauerlicherweise ebenfalls recht gehabt, als sie behauptete, er schere sich keinen Deut um mich, sondern veranstalte diese ganze Komödie nur, um an den Schatz heranzukommen. Tja, ich hätte besser auf sie hören sollen. Leider kam diese Erkenntnis viel zu spät. Nun stand ich Dummchen hier und fühlte mich, als hätte gerade jemand einen Vorschlaghammer auf meine Zukunft niedersausen lassen.
Jetzt, dachte ich, während ich die beiden durch die Tür beobachtete, wäre ein passender Zeitpunkt, um in Tränen auszubrechen. Aber ich konnte nicht. In dieser Nacht war zu viel passiert. Mein Vorrat an Emotionen reichte nur noch für einen Kloß im Hals, bestehend aus einem Teil Fassungslosigkeit und einem Teil Furcht.
Währenddessen erhob sich Alessandro drinnen vom Schreibtisch und sagte etwas, das mit den vertrauten Themen Bruder Lorenzo, Giulietta und Cencio zu tun hatte. Umberto fasste daraufhin in seine Tasche und holte ein kleines grünes Fläschchen heraus, das er kräftig schüttelte, ehe er es Alessandro überreichte. Was er dabei sagte, verstand ich nicht.
Während ich atemlos und auf Zehenspitzen dastand, sah ich nur grünes Glas und einen Korken. Was war das? Gift? Ein Schlafmittel? Und für wen war es bestimmt? Für mich? Wollte Umberto, dass Alessandro mich umbrachte? Nie hätte ich es nötiger gehabt, Italienisch zu verstehen, als in diesem Moment.
Was auch immer sich in dem Fläschchen befand, jedenfalls wirkte Alessandro völlig überrascht, als er es entgegennahm. Ein fast schon dämonischer Ausdruck trat in seine Augen. Da er es Umberto sofort zurückgab und dabei irgendetwas Abfälliges ausstieß, glaubte ich für den Bruchteil einer Sekunde, dass er mit Umbertos teuflischen Plänen, egal, wie sie geartet sein mochten, nichts zu tun haben wollte.
Umberto zuckte nur mit den Achseln und stellte das Fläschchen behutsam auf den Tisch. Dann streckte er Alessandro die Hand hin, woraus deutlich hervorging, dass er im Gegenzug auch etwas haben wollte. Stirnrunzelnd reichte Alessandro ihm ein Buch.
Ich erkannte es sofort wieder. Es handelte sich um die Taschenbuchausgabe von Romeo und Julia, die meiner Mutter gehört hatte und am Vortag, als Janice und ich in den Bottini Höhlenforschung betrieben, aus der Truhe mit ihren Papieren verschwunden war ... oder vielleicht auch erst später, während wir uns in Maestro Lippis Atelier gegenseitig Geistergeschichten erzählten. Kein Wunder, dass Alessandro immer wieder im Hotel angerufen hatte. Offensichtlich wollte er dadurch nur sichergehen, dass ich weg war, ehe er erneut bei mir einbrach, um das Buch zu holen.
Ohne ein Wort des Dankes begann Umberto mit selbstgefälliger Gier das Buch durchzublättern, während Alessandro die Hände in die Hosentaschen schob und zum Fenster hinüberging-
Ich schluckte ein paarmal heftig, weil mir sonst vor Aufregung bestimmt das Herz aus dem Hals gesprungen wäre, während ich den Mann betrachtete, der - erst vor wenigen Stunden - zu mir gesagt hatte, er fühle sich wie neugeboren und von all seinen Sünden gereinigt. Nun stand er dort in diesem Raum und verriet mich bereits zum ersten Mal, noch dazu gemeinsam mit jemandem, der nicht einfach irgendwer war, sondern der einzige andere Mann, dem ich je vertraut hatte.
Genau in dem Moment, als ich zu dem Schluss kam, dass ich genug gesehen hatte, klappte Umberto das Buch mit einer heftigen Bewegung zu und knallte es neben dem Fläschchen auf den Tisch. Die wütenden Worte, die er dabei ausstieß, verstand ich sogar ohne Italienischkenntnisse. Genau wie Janice und ich war auch Umberto zu der frustrierenden Erkenntnis gelangt, dass das Buch - für sich allein genommen - keine Hinweise darauf enthielt, wo sich das Grab von Romeo und Giulietta
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