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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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achten, die uns feixend beobachteten -, blieb Bruder Lorenzo schließlich stehen und wandte sich wieder uns zu.
    »Der Dom von Siena ist von Osten nach Westen ausgerichtet«, übersetzte Umberto, »wobei der Eingang im Westen liegt. Das ist bei Kathedralen so üblich. Deshalb möchte man meinen, dass es bei der Krypta auch so sein müsste, aber laut dem Buch ...«
    »Welchem Buch?«, fragte Janice erneut. »Herrgott nochmal!«, fauchte ich. »Irgendeinem Buch, das man als Mönch in Viterbo eben so liest!«
    »Laut dem Buch«, fuhr Umberto fort, während er uns beide mit einem strafenden Blick bedachte, »ist der schwarze Teil der Jungfrau das Spiegelbild ihres weißen Teils, womit gemeint sein könnte, dass die Krypta - also der schwarze Teil, der unter der Erdoberfläche liegt - im Gegensatz zum Dom selbst von Westen nach Osten ausgerichtet ist. Was wiederum bedeuten würde, dass der Eingang im Osten liegt, und der Ausgang dieses Raums somit im Westen. Oder wie seht ihr das?«
    Janice und ich wechselten einen Blick. Meine Schwester wirkte genauso verwirrt, wie ich mich fühlte. »Keine Ahnung«, sagte ich zu Umberto, »wie er zu diesem Schluss kommt, aber wir sind inzwischen so weit, dass wir alles glauben.«
    Als Cocco die Neuigkeit hörte, schnippte er seinen Zigarettenstummel weg und schob den Ärmel hoch, um den Kompass seiner Armbanduhr zu aktivieren. Sobald er sicher war, in welcher Richtung Westen lag, rief er den Männern seine Anweisungen zu.
    Wenige Minuten später waren sie alle eifrig damit beschäftigt, im westlichsten Teil der Höhle den Boden aufzugraben. Dabei rissen sie mit bloßen Händen verstümmelte Skelette heraus und warfen sie zur Seite, als handelte es sich nur um abgestorbene Äste. Es war ein seltsames Gefühl, die Männer mit ihren Abendanzügen, schimmernden Schuhen und Stirnlampen auf dem Kopf im Dreck herumkriechen zu sehen. Allem Anschein nach hatte keiner von ihnen das geringste Problem damit, den Staub der sich auflösenden Knochen einzuatmen.
    Mir dagegen wurde allein schon von dem Anblick speiübel. Ich wandte mich Janice zu, die aussah, als hätten die Ausgrabungsarbeiten sie völlig in ihren Bann gezogen. Als sie meinen Blick schließlich doch bemerkte, sagte sie mit einem leichten Schaudern: »Kommt, Fräulein, flieht die Grube des Tods, der Seuchen, des erzwungnen Schlafs. Denn eine Macht, zu hoch dem Widerspruch, hat unsern Rat vereitelt.«
    Ich legte einen Arm um sie, um uns beide vor dem Horrorszenario abzuschirmen. »Und ich dachte schon, du würdest diese verdammten Verse niemals lernen.«
    »Es lag nicht an den Versen«, entgegnete sie, »sondern an der Rolle. Ich war einfach nie Julia.« Sie zog meinen Arm noch fester um sich. »Ich könnte niemals aus Liebe sterben.«
    Ich versuchte im flackernden Licht ihre Miene zu deuten. »Woher willst du das wissen?«
    Sie gab mir keine Antwort, aber das brauchte sie auch nicht, denn genau in dem Moment stieß einer der Männer in dem Loch, das sie gerade aushoben, einen lauten Schrei aus, und wir traten beide vor, um zu sehen, was passiert war.
    »Das dürfte der obere Teil einer Tür sein«, stellte Umberto fest und deutete auf die entsprechende Stelle. »Demnach hat Bruder Lorenzo also tatsächlich recht.«
    Wir reckten beide den Hals, doch im spärlichen Licht der Stirnlampen war es nahezu unmöglich, etwas anderes auszumachen als die Männer selbst, die in dem Loch herumwuselten wie hektische Käfer.
    Erst später, als sie alle wieder herauskletterten, um ihre Elektrowerkzeuge zu holen, wagte ich es, mit meiner Taschenlampe in den Krater zu leuchten und in Augenschein zu nehmen, was sie gefunden hatten. »Sieh mal!« Aufgeregt packte ich Janice am Arm. »Eine versiegelte Tür!«
    In Wirklichkeit war es kaum mehr als die Spitze einer weißen Form in der Höhlenwand. Die Männer hatten erst knapp einen Meter freigelegt, aber es bestand kein Zweifel daran, dass es sich um einen Türrahmen handelte, oder zumindest um den oberen Teil davon, über dessen Spitze sogar eine geschnitzte fünfblättrige Rose zu erkennen war. Die Türöffnung jedoch war mit einem Durcheinander aus braunen Ziegeln und Bruchstücken irgendwelcher Marmorverkleidungen zugemauert worden. Wer auch immer die Arbeiten geleitet hatte, war - vermutlich irgendwann in jenem schrecklichen Jahr 1348 - zu sehr in Eile gewesen, um sich über das Baumaterial oder den optischen Eindruck Gedanken zu machen.
    Als die Männer schließlich mit ihrem Werkzeug zurückkamen und

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