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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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gegenüberliegenden Loggia und war mit einer Staffelei und mehreren anderen Gegenständen beladen, die ihm immer wieder entglitten, so dass er ständig gezwungen war, haltzumachen und das Gewicht neu zu verteilen. Zuerst starrte ich ihn nur an, ich konnte einfach nicht anders, denn ein Italiener wie er war mir noch nie untergekommen: Mit seinem langen grauen Haar, der weiten Jacke und den offenen Sandalen hatte er Ähnlichkeit mit einem Zeitreisenden aus Woodstock, der in einer längst von Laufstegmodels übernommenen Welt herumschlurfte.
    Anfangs bemerkte er mich gar nicht, und als ich ihn dann einholte und ihm einen Pinsel reichte, den er fallen gelassen hatte, zuckte er erschrocken zusammen.
    »Scusi ...«, sagte ich, »aber ich glaube, das gehört Ihnen.«
    Er betrachtete den Pinsel ohne ein Zeichen des Erkennens. Als er ihn schließlich entgegennahm, hielt er ihn in der Hand, als hätte er keine Ahnung, wozu so ein Ding diente. Dann richtete er seinen immer noch verblüfften Blick auf mich und fragte: »Kenne ich Sie?«
    Ehe ich antworten konnte, breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, und er rief: »Natürlich kenne ich Sie! Ich kann mich an Sie erinnern. Sie sind ... oh! Helfen Sie mir ... wer sind Sie?«
    »Giulietta. Tolomei? Aber ich glaube nicht, dass ...«
    »Si-si-si! Natürlich ! Wo sind Sie gewesen?«
    »Ich ... ich bin gerade erst angekommen.«
    Er zog eine Grimasse, als ärgerte er sich über seine eigene Dummheit. »Natürlich! Sie müssen entschuldigen. Natürlich sind Sie gerade erst angekommen. Und nun sind Sie hier. Giulietta Tolomei. Schöner denn je.« Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Ich habe seit jeher ein Problem damit ... mit dem, was man Zeit nennt.«
    »Sagen Sie«, antwortete ich ein wenig befremdet, »geht es Ihnen gut?«
    »Mir? Oh! Ja, danke der Nachfrage. Aber ... Sie müssen mich unbedingt besuchen kommen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Kennen Sie mein Atelier? In der Via Santa Caterina. Die blaue Tür. Sie brauchen nicht zu klopfen, treten Sie einfach ein.«
    Erst jetzt kam mir in den Sinn, dass er mich wohl als Touristin identifiziert hatte und mir irgendwelche Souvenirs verkaufen wollte. Ja, schon klar, Kumpel, dachte ich, darauf kannst du Gift nehmen.
     
    Als ich an diesem Abend Umberto anrief, reagierte er zutiefst verstört auf meine neuen Erkenntnisse hinsichtlich des Todes meiner Eltern. »Bist du sicher?«, fragte er immer wieder, »bist du sicher, dass das stimmt?« Ich bejahte. Alles deutete darauf hin, dass vor zwanzig Jahren dunkle Mächte im Spiel gewesen waren. Doch damit nicht genug: Soweit ich es beurteilen konnte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass diese Mächte immer noch auf der Lauer lagen. Warum sonst hätte mich am Vortag jemand verfolgen sollen?
    »Und du bist sicher, dass er dich verfolgt hat«, wandte Umberto ein, »vielleicht ...«
    »Umberto«, fiel ich ihm ins Wort, »er trug einen Trainingsanzug.«
    Wir wussten beide, dass in Umbertos Welt nur ein besonders bösartiger Schurke in der Lage war, eine schicke Einkaufsstraße in Sportklamotten entlangzugehen.
    »Tja«, meinte Umberto, »vielleicht war der Kerl ja nur ein Taschendieb, der es auf deinen Geldbeutel abgesehen hatte. Er hat beobachtet, wie du aus der Bank gekommen bist, und gedacht, du hättest Geld abgehoben ...«
    »Ja, vielleicht. Ich wusste wirklich nicht, warum jemand diese Truhe stehlen sollte. Ich kann darin nichts finden, was mit Julias Augen zu tun hätte ...«
    »Julias Augen?«
    »Ja, Peppo hat davon gesprochen.« Seufzend warf ich mich auf mein Bett. »Offenbar nennt sich der Schatz so. Aber wenn du mich fragst, ist das alles bloß Humbug. Ich glaube, Mom und Tante Rose sitzen gerade oben im Himmel und schütten sich aus vor Lachen. Wie auch immer ... was treibst du denn so?«
    Wir sprachen noch mindestens fünf Minuten miteinander, ehe ich begriff, dass Umberto sich nicht mehr in Tante Roses Haus aufhielt, sondern in einem Hotel in New York. Er erzählte mir, er sei auf Arbeitssuche. Was auch immer das heißen mochte. Ich konnte ihn mir einfach nicht als Kellner vorstellen, der in Manhattan Parmesan über anderer Leute Pasta raspelte. Wahrscheinlich erging es ihm ähnlich, denn er klang müde und mutlos. Es wäre mir eine Freude gewesen, ihm sagen zu können, dass ich im Begriff stand, mir ein größeres Vermögen zu sichern, doch was das betraf, machten wir uns beide nichts vor: Trotz der Tatsache, dass es mir gelungen war, die Truhe meiner Mutter

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