Julia
die folgenden Punkte betraf: Erstens: Luciano Salimbeni war tot.
Zweitens: Luciano Salimbeni war ein übler Kerl gewesen, womöglich sogar ein Massenmörder.
Drittens: Luciano und Eva Maria Salimbeni waren irgendwie verwandt.
Viertens: Irgendetwas an dem Autounfall, der meine Mutter das Leben gekostet hatte, war dubios gewesen, und man hatte nach Luciano Salimbeni gefahndet, um ihn dazu zu befragen.
Ich druckte sämtliche Seiten aus, damit ich sie später, wenn ich mein Wörterbuch zur Hand hatte, noch einmal in Ruhe lesen konnte. Meine Suche hatte kaum mehr ergeben, als Peppo Tolomei mir an diesem Nachmittag bereits erzählt hatte, doch zumindest wusste ich jetzt, dass mein alter Cousin die Geschichte nicht nur erfunden hatte. Vor etwa zwanzig Jahren hatte tatsächlich ein gefährlicher Mann namens Luciano Salimbeni in Siena sein Unwesen getrieben.
Die gute Nachricht war allerdings, dass er nicht mehr lebte. Anders ausgedrückt konnte er definitiv nicht der Charmeur im Trainingsanzug sein, der mir - vielleicht, vielleicht aber auch nicht - am Vortag auf den Fersen gewesen war, nachdem ich mit der Truhe meiner Mutter die Bank im Palazzo Tolomei verlassen hatte.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, googelte ich noch Julias Augen. Wie erwartet hatte keines der Suchergebnisse mit einem legendären Schatz zu tun. Bei fast allen handelte es sich um halbakademische Diskussionen über die Bedeutung der Augen in Shakespeares Romeo und Julia. Pflichtbewusst überflog ich ein paar Passagen aus dem Stück und versuchte dabei, eine geheime Nachricht herauszulesen. Eine der Textstellen lautete:
Ach, deine Augen dröhn mir mehr Gefahr
Als zwanzig ihrer Schwerter.
Tja, dachte ich, wenn dieser üble Luciano Salimbeni meine Mutter tatsächlich wegen eines Schatzes namens Julias Augen getötet hatte, dann entsprach Romeos Äußerung der Wahrheit. Wie auch immer diese geheimnisvollen Augen aussehen mochten, sie waren potentiell gefährlicher als Waffen. Ganz einfach. Im Vergleich dazu war die zweite Passage ein bisschen komplexer als irgendein banaler Anmachspruch:
Ein Paar der schönsten Stern' am ganzen Himmel
Wird ausgesandt und bittet Juliens Augen,
In ihren Kreisen unterdes zu funkeln.
Doch wären ihre Augen dort,
die Sterne in ihrem Antlitz?
Auf dem Rückweg durch die Via del Paradiso brütete ich die ganze Zeit über diesen Zeilen. Zweifellos versuchte Romeo, Julia ein Kompliment zu machen, indem er ihre Augen mit funkelnden Sternen verglich, befleißigte sich dabei aber einer reichlich seltsamen Ausdrucksweise. Meiner Meinung nach war es nicht besonders galant, um ein Mädchen zu werben, indem man sich vorstellte, wie sie mit ausgestochenen Augen aussähe. Aber dafür fand er sie dann funkelnder als Sterne. Schon okay.
Letztendlich aber bedeuteten diese Verszeilen für mich eine willkommene Ablenkung von all den anderen Dingen, die ich an diesem Tag erfahren hatte. Meine beiden Eltern waren getrennt voneinander auf schreckliche Weise ums Leben gekommen, womöglich sogar durch die Hand eines Mörders. Obwohl mein Besuch auf dem Friedhof bereits mehrere Stunden zurücklag, bereitete es mir immer noch Schwierigkeiten, diese grauenhafte Erkenntnis zu verdauen. Zusätzlich zu meinem Schock und meinem Kummer quälten mich wie am Vortag, als ich mich nach dem Verlassen der Bank verfolgt fühlte, kleine Flohbisse der Furcht. Hatte Peppo mit seinen Warnungen recht? War es tatsächlich denkbar, dass ich mich nach all den Jahren noch in Gefahr befand? Falls ja, konnte ich mich dieser Gefahr vermutlich entziehen, indem ich nach Virginia zurückkehrte. Aber was, wenn tatsächlich ein Schatz existierte? Was, wenn es irgendwo in der Truhe meiner Mutter einen Hinweis darauf gab, wie Julias Augen zu finden waren? Worum auch immer es sich dabei handeln mochte.
Gedankenverloren bog ich an der Piazza San Domenico in einen abgeschiedenen Kreuzgang ein. Mittlerweile dämmerte es bereits, ich blieb für einen Moment am Portikus einer Loggia stehen und genoss die letzten Sonnenstrahlen, während langsam die ersten abendlichen Schatten an meinen Beinen hochkrochen. Ich hatte noch keine Lust, ins Hotel zurückzukehren, wo Maestro Ambrogios Tagebuch darauf wartete, mich in eine weitere schlaflose Nacht im Jahre 1340 hineinzureißen.
Während ich dort im Dämmerlicht stand und meinen Gedanken nachhing, die alle um meine Eltern kreisten, sah ich ihn zum ersten Mal ...
Den Maestro.
Er ging im Schatten der
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