Julia
nicht!«, beteuerte Bruder Lorenzo, der noch viel zu erschüttert war, um Vertrauen zu einem weiteren Fremden zu fassen, der soeben seine mörderischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte. »In diesem Sarg liegt der schrecklich entstellte Leichnam eines meiner Ordensbrüder. Der Ärmste stürzte vor drei Tagen von unserem zugigen Glockenturm. Mein Auftrag lautet, ihn Messer - ähm ... seiner Familie in Siena zu übergeben, und zwar noch heute Abend.«
Zu Bruder Lorenzos großer Erleichterung schlug die zunehmende Feindseligkeit auf dem Gesicht seines Gegenübers nun in Mitleid um, und der Mann stellte auch keine Fragen mehr zu dem Sarg. Stattdessen wandte er den Kopf und spähte ungeduldig die Straße hinunter. Bruder Lorenzo, der seinem Blick folgte, sah nichts als die untergehende Sonne, deren Anblick ihm jedoch ins Gedächtnis rief, dass es ihm nur dank dieses jungen Mannes, ob nun Heide oder nicht, vergönnt war, den Rest dieses Abends und, so Gott wollte, noch viele weitere dieser Art zu genießen.
»Cousins«, bellte sein Retter, »unser Proberennen wurde durch diesen unglücklichen Bruder verzögert!«
Erst jetzt sah Bruder Lorenzo fünf weitere Reiter direkt aus der Sonne reiten, und als sie näher kamen, begriff er allmählich, dass er es mit einer Handvoll junger Männer zu tun hatte, die irgendeine Art von Sport betrieben. Keiner der anderen trug eine Rüstung, aber einer, noch ein richtiger Junge, hielt ein großes Stundenglas in der Hand. Als der Junge die Leiche im Straßengraben entdeckte, glitt ihm das Glas aus den Händen und brach auf dem Boden entzwei.
»Ein schlechtes Omen für unser Rennen, kleiner Cousin«, sagte der Ritter zu dem Jungen, »aber vielleicht kann unser heiliger Freund das mit ein, zwei Gebeten wieder wettmachen. Was meint Ihr, Bruder, habt Ihr einen Segensspruch für mein Pferd auf Lager?«
Bruder Lorenzo, der glaubte, Opfer eines Scherzes zu werden, warf seinem Retter einen finsteren Blick zu, doch der Mann machte einen völlig aufrichtigen Eindruck, während er so bequem auf seinem Ross saß wie andere zu Hause in einem Sessel. Als der junge Mann die gerunzelte Stirn des Mönchs sah, lächelte er und sagte: »Ach, lasst gut sein. Bei diesem alten Klepper hilft sowieso kein Segen mehr. Doch ehe wir uns trennen, verratet mir noch, ob ich einen Freund oder einen Feind gerettet habe.«
»Edler Herr!« Schockiert über die Tatsache, dass er - nur für einen Augenblick - versucht gewesen war, schlecht von dem Mann zu denken, den Gott als seinen Lebensretter gesandt hatte, sprang Bruder Lorenzo auf und griff sich unterwürfig ans Herz. »Ich verdanke Euch mein Leben ! Wie könnte ich da etwas anderes sein als auf ewig Euer ergebenster Diener?«
»Schöne Worte! Doch wem gehört Eure Loyalität?«
»Meine Loyalität?« Ratlos blickte Bruder Lorenzo von einem zum anderen, in der Hoffnung, auf diese Weise ein Stichwort zu bekommen, das ihm weiterhelfen würde.
»Ja«, drängte ihn der Junge, der das Stundenglas hatte fallen lassen, »zu wem haltet Ihr beim Palio?«
Sechs Paar Augen wurden schmal, während Bruder Lorenzo krampfhaft überlegte, was er darauf erwidern sollte. Sein Blick wanderte von dem goldenen Schnabel am federgeschmückten Helm des Ritters zu den schwarzen Schwingen auf dem Banner, das an seine Lanze gebunden war, und von dort weiter zu dem riesigen Adler, der mit ausgebreiteten Flügeln auf seinem Brustharnisch prangte.
»Selbstverständlich«, antwortete Bruder Lorenzo hastig, »halte ich zum ... Adler? Ja! Zum mächtigen Adler ... dem König der Lüfte!«
Zu seiner großen Erleichterung wurde diese Antwort mit Jubel entgegengenommen.
»Dann seid Ihr wahrhaft ein Freund!«, schloss der Ritter, »und ich bin froh, dass ich ihn getötet habe, und nicht Euch. Kommt, wir bringen Euch in die Stadt. Durch das Camollia-Tor werden nach Sonnenuntergang keine Karren mehr eingelassen, wir müssen uns also beeilen.«
»Eure Freundlichkeit«, erwiderte Bruder Lorenzo, »beschämt mich. Bitte nennt mir Euren Namen, damit ich Euch von nun an bis in alle Ewigkeit in meine Gebete einschließen kann.«
Der Helm mit dem Schnabel senkte sich zu einem kurzen, freundschaftlichen Nicken.
»Ich bin der Adler. Man nennt mich Romeo Marescotti.«
»Euer irdischer Name lautet Marescotti?«
»Was ist schon ein Name? Der Adler lebt ewig.«
»Nur der Himmel«, bemerkte Bruder Lorenzo, dessen angeborene Strenge für einen Moment die Oberhand über seine Dankbarkeit gewann,
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