Julia
»kann ewiges Leben gewähren.«
Der Ritter strahlte ihn an. »Dann ist der Adler«, konterte er - hauptsächlich zur Erheiterung seiner Gefährten - »wohl der Lieblingsvogel der Jungfrau Maria!«
Als Romeo und seine Cousins schließlich Mönch und Karren an ihrem angeblichen Ziel innerhalb der Stadtmauern von Siena abgeliefert hatten, war die Dämmerung bereits vorüber, und eine wachsame Stille hatte sich über die dunkle Welt gesenkt. Alle Türen und Fensterläden waren inzwischen abgeschlossen und verriegelt, um die nächtlichen Dämonen draußen zu halten, und wären da nicht der Mond und gelegentlich ein Fußgänger mit einer Fackel gewesen, dann hätte Bruder Lorenzo in dem verschlungenen Labyrinth aus Straßen längst die Orientierung verloren.
Auf Romeos Frage, zu wem er wolle, hatte der Mönch gelogen. Er war bestens über die blutige Fehde zwischen den Tolomeis und Salimbenis informiert und wusste, wie gefährlich es sein konnte, wenn er in der falschen Gesellschaft eingestand, dass er nach Siena gekommen war, um den großen Messer Tolomei zu sehen. Trotz ihrer Hilfsbereitschaft konnte man nie wissen, wie Romeo und seine Cousins reagieren würden - oder was für üble Geschichten sie ihren Freunden und Familien erzählen würden -, falls sie die Wahrheit erfuhren. Deshalb behauptete Bruder Lorenzo stattdessen, sein Ziel sei das Atelier von Maestro Ambrogio Lorenzetti, denn das war der einzige andere Name, der ihm im Zusammenhang mit Siena einfiel.
Ambrogio Lorenzetti war Maler, ein wahrer Maestro, der weit und breit für seine Fresken und Porträts bekannt war. Bruder Lorenzo hatte ihn nie persönlich kennengelernt, konnte sich aber daran erinnern, dass ihm jemand erzählt hatte, dieser große Mann lebe in Siena. Als er den Namen gegenüber Romeo zum ersten Mal nannte, war ihm ziemlich mulmig zumute, doch nachdem der junge Mann ihm nicht widersprach, bekam er das Gefühl, dass es eine weise Entscheidung gewesen war, den Künstler zu erwähnen.
»Nun denn«, erklärte Romeo, der sein Pferd gerade mitten auf einer schmalen Straße zum Stehen brachte, »da sind wir. Es ist die blaue Tür.«
Bruder Lorenzo blickte sich um. Es überraschte ihn, dass der berühmte Maler nicht in einem schöneren Viertel lebte. Die Straße war voller Müll und Schmutz, und aus Hauseingängen und anderen dunklen Winkeln spähten ihm magere Katzen entgegen. »Ich danke Euch«, antwortete er, während er von seinem Karren kletterte, »Ihr wart mir eine große Hilfe, meine Herren. Der Himmel wird Euch zur rechten Zeit entlohnen.«
»Tretet beiseite, Mönch«, entgegnete Romeo, der sich seinerseits vom Pferd schwang, »damit wir Euch den Sarg hineintragen können.«
»Nein! Rührt ihn nicht an!« Bruder Lorenzo versuchte, zwischen Romeo und dem Sarg Stellung zu beziehen. »Ihr habt mir schon genug geholfen.«
»Unsinn!« Es hätte nicht viel gefehlt, und Romeo hätte den Mönch beiseite geschoben. »Wie wollt Ihr ohne unsere Hilfe ins Haus gelangen?«
»Ich will nicht ... Gott wird einen Weg finden ! Der Maestro wird mir helfen ...«
»Maler haben viel im Kopf, aber keine Muskeln. Hier ...« Romeo schob sein Gegenüber nun tatsächlich beiseite, wenn auch sanft. Offenbar war ihm bewusst, dass er es mit einem schwachen Gegner zu tun hatte.
Der Einzige, der sich seiner eigenen Schwäche nicht bewusst war, war Bruder Lorenzo. »Nein!«, schrie er, während er versuchte, sich als alleiniger Beschützer des Sarges zu behaupten. »Ich bitte Euch ... ich befehle Euch ... !«
»Ihr befehlt mir?« Romeo wirkte erheitert. »Mit solchen Worten weckt Ihr nur meine Neugier. Ich habe Euch gerade das Leben gerettet. Warum könnt Ihr meine Hilfe nun plötzlich nicht mehr annehmen?«
Auf der anderen Seite der blauen Tür ging Maestro Ambrogio jener Tätigkeit nach, der er um diese Zeit immer nachging: dem Mischen und Prüfen von Farben. Die Nacht gehörte den Kühnen, den Verrückten und den Künstlern - oft in einer Person. Für den Maler war es eine wunderbare Zeit zum Arbeiten, denn all seine Kunden waren mittlerweile zu Hause und aßen oder schliefen, wie bei normalen Menschen üblich, so dass sie erst nach Sonnenaufgang wieder an seine Tür klopfen würden.
Ganz in seine Arbeit versunken, bemerkte Maestro Ambrogio den Lärm auf der Straße erst, als sein Hund Dante zu knurren begann. Ohne seinen Mörserstößel wegzulegen, trat der Maler näher an die Tür und versuchte einzuschätzen, wie ernst der Streit war, der sich - dem
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