Julia
umgebenden Gemälde. »Ein Mann, der das Göttliche in den irdischen Dingen sehen kann, ist gewiss ein Bruder in Christus.«
Der Maestro blickte sich nun seinerseits um, sah aber nur leere Weinflaschen, unvollendete Arbeiten und Porträts von Leuten, die es sich anders überlegt hatten, als sie seine Rechnung sahen. »Ihr seid allzu großzügig mit Eurem Lob«, meinte er kopfschüttelnd, »doch das kreide ich Euch nicht an. Keine Angst, ich werde Euch zum Palazzo Tolomei bringen, doch zuerst befriedigt meine schnöde Neugier und erzählt mir, was dieser jungen Dame zugestoßen ist und warum sie als vermeintlich Tote in diesem Sarg liegen musste.«
Zum ersten Mal ergriff Giulietta das Wort. Obwohl ihr Gesicht vor Kummer angespannt wirkte, sprach sie mit sanfter, ruhiger Stimme. »Vor drei Tagen«, erklärte sie, »haben die Salimbenis das Haus meiner Eltern überfallen. Sie haben alle getötet, die den Namen Tolomei trugen - meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder -, und ebenso alle anderen, die ihnen im Weg standen, mit Ausnahme dieses Mannes, meines lieben Beichtvaters Bruder Lorenzo. Ich war gerade in der Kapelle beim Beichten, als der Überfall stattfand, sonst wäre auch ich ...« Als die Verzweiflung sie überkam, wandte sie den Kopf ab.
»Wir sind hergekommen, um Messer Tolomei um seinen Schutz zu bitten«, ergriff Bruder Lorenzo das Wort, »und ihm zu berichten, was passiert ist.«
»Wir sind gekommen, um Rache zu üben«, korrigierte ihn Giulietta mit vor Hass geweiteten Augen. Dabei presste sie die Fäuste fest gegen die Brust, als müsste sie sich selbst von einer Gewalttat abhalten, »und um diesem Monstrum Salimbeni das Gedärm aus dem Leib zu reißen und ihn an seinen eigenen Eingeweiden aufzuhängen ...«
»Ähm«, meldete sich Bruder Lorenzo erneut zu Wort, »natürlich werden wir christliche Vergebung üben ...«
Giulietta nickte inbrünstig, ohne auf seinen Einwand zu achten, »... während wir ihn gleichzeitig Stück für Stück an seine Hunde verfüttern!«
»Ich leide mit Euch«, antwortete Maestro Ambrogio, der das schöne Kind am liebsten in die Arme genommen und getröstet hätte, »Ihr habt so viel ertragen ...«
»Ich habe gar nichts ertragen!« Der Blick ihrer blauen Augen durchbohrte das Herz des Malers. »Leidet nicht mit mir, sondern seid einfach so freundlich und bringt uns zum Haus meines Onkels, ohne uns weitere Fragen zu stellen.« Sie gewann ihre Fassung wieder und fügte leise hinzu: »Bitte.«
Nachdem er Mönch und Mädchen wohlbehalten im Palazzo Tolomei abgeliefert hatte, kehrte Maestro Ambrogio fast im Laufschritt in sein Atelier zurück. Noch nie hatte er so etwas empfunden. Er war verliebt, er litt Höllenqualen ... und zwar beides gleichzeitig, während die Inspiration in seinem Kopf ihre kolossalen Flügel ausbreitete und die Krallen schmerzhaft in seinen Brustkasten schlug - verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg aus dem Gefängnis, das die sterbliche Hülle eines talentierten Mannes darstellte.
Indessen lag Dante, dem die Menschheit immer neue Rätsel aufgab, ausgestreckt auf dem Boden und sah mit halbem, blutunterlaufenem Auge zu, wie Maestro Ambrogio sorgsam seine Farben mischte und anschließend begann, die Darstellung einer bis dato kopflosen Jungfrau Maria mit Giulietta Tolomeis Gesichtszügen zu versehen. Der Künstler konnte nicht anders, er musste mit ihren Augen beginnen. Nirgendwo sonst in seinem Atelier war eine solch faszinierende Farbe zu sehen. Nicht einmal in der ganzen Stadt wäre ein vergleichbarer Ton aufzutreiben gewesen, denn er hatte ihn gerade erst erschaffen: in dieser Nacht, in einem Zustand fast fiebriger Erregung, während das Bild des jungen Mädchens noch feucht an der Wand seines Geistes hing.
Vom ersten Gelingen ermutigt, zögerte er nicht, die Umrisse jenes bemerkenswerten Gesichts unter der flammend rotgoldenen Haarpracht nachzuziehen. Noch immer waren seine Bewegungen erstaunlich schnell und sicher. Das Bild entstand wie von Zauberhand. Hätte die junge Frau in diesem Augenblick vor ihm gesessen und für die Ewigkeit posiert, wäre der Maler mit derselben schwindelerregenden Zielsicherheit zu Werke gegangen, wie er es jetzt tat.
»Ja!«, lautete das einzige Wort, das er ausstieß, während er eifrig - nein, fast schon begierig - jene atemberaubenden Gesichtszüge zu neuem Leben erweckte. Als das Bild schließlich fertig war, trat er mehrere Schritte zurück und griff nach dem Glas Wein, das er sich fünf Stunden zuvor
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