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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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seinem Platz hoch, als hätte der Sarg unter ihm plötzlich Feuer gefangen. »Was sind das für gruselige Reden! Ich weiß nicht, ob die Gänsehaut an meinem Arm von Furcht oder Freude herrührt!«
    »Fürchtet Ihr die Ränke von Menschen?«
    »Von Menschen nicht. Von Gott sehr.«
    »Dann lasst Euch durch meine Worte beruhigen. Denn nicht Gott legte sie wie tot in diesen Sarg, sondern der Mönch, Bruder Lorenzo, weil er um ihre Sicherheit bangte.«
    Romeo blieb der Mund offen stehen. »Ihr meint, sie war gar nicht tot?«
    Maestro Ambrogio musste über den Gesichtsausdruck des jungen Mannes lächeln. »Sie war genauso lebendig wie Ihr.«
    Romeo fasste sich an den Kopf. »Ihr treibt Spaße mit mir! Ich kann Euch nicht glauben!«
    »Glaubt, was Ihr wollt«, erwiderte der Maestro, während er aufstand und die Pinsel wegräumte, »oder öffnet den Sarg.«
    Von großer Angst erfüllt, schritt Romeo im Atelier umher, ehe er sich schließlich wappnete und den Sarg aufriss.
    Statt sich über die gähnende Leere zu freuen, funkelte der junge Mann den Maestro erneut an. »Wo ist sie?«
    »Das kann ich Euch nicht sagen, denn damit würde ich einen Vertrauensbruch begehen.«
    »Aber sie ist am Leben?«
    Der Maestro zuckte mit den Achseln. »Zumindest war sie es, als ich sie das letzte Mal sah - auf der Schwelle des Hauses ihres Onkels, wo sie mir zum Abschied winkte.«
    »Und wer ist ihr Onkel?«
    »Wie gesagt: das darf ich Euch nicht verraten.«
    Romeo trat mit zuckenden Fingern einen Schritt auf den Maestro zu. »Soll das heißen, ich muss unter jedem Balkon in Siena Serenaden singen, bis die richtige Frau herauskommt?«
    Dante war im ersten Moment, als der junge Mann seinem Herrn zu drohen schien, sofort aufgesprungen, doch statt ein warnendes Knurren auszustoßen, legte der Hund nun lediglich den Kopf in den Nacken und gab ein langes, ausdrucksvolles Heulen von sich.
    »Vorerst kommt sie bestimmt nicht heraus«, antwortete Maestro Ambrogio, während er sich hinunterbeugte, um den Hund zu tätscheln, »denn sie ist nicht in der Stimmung für Serenaden. Vielleicht wird sich daran auch nie etwas ändern.«
    »Dann frage ich mich«, rief Romeo, der vor lauter Enttäuschung fast die Staffelei mit dem Porträt umgestoßen hätte, »warum Ihr mir das alles überhaupt erzählt?«
    »Weil«, antwortete Maestro Ambrogio, erheitert über die Verzweiflung des jungen Mannes, »es dem Auge eines Künstlers wehtut, wenn es sehen muss, wie sich eine weiße Taub' mit einer Krähenschar herumtreibt.«
     

III.I
    Was ist ein Name? Was uns Rose heißt,
    Wie es auch hieße, würde lieblich duften
     
    Der Blick von der Fortezza, der Festung der Medici, war spektakulär. Ich konnte an diesem Nachmittag nicht nur die sonnenheißen Dächer von Siena sehen, sondern darüber hinaus ein weites Panorama sanft geschwungener Hügel, deren Wellen mich mit ihren unterschiedlichen Grünschattierungen und fernen Blautönen umgaben wie ein Ozean. Immer wieder blickte ich von meiner Lektüre auf und betrachtete die weite Landschaft in der Hoffnung, sie könnte all die schale Luft aus meinen Lungen pressen und meine Seele mit Sommer erfüllen, doch jedes Mal, wenn ich den Blick zurück auf Maestro Ambrogios Tagebuch richtete, versank ich sofort wieder in den düsteren Ereignissen des Jahres 1340.
    Den Vormittag hatte ich damit zugebracht, in Malènas Espressobar an der Piazza Postieria die offiziellen Frühfassungen von Romeo und Julia durchzublättern, von denen die eine 1476 von Masuccio Salernitano und die andere 1530 von Luigi da Porto verfasst worden war. Ich fand es interessant zu sehen, wie die Handlung sich entwickelt hatte und auf welche Weise da Porto einer Geschichte, die - zumindest laut Salernitano - auf wahren Begebenheiten beruhte, eine literarische Prägung gegeben hatte.
    In Salernitanos Version lebten Romeo und Julia - beziehungsweise Mariotto und Giannozza - in Siena, doch ihre Eltern lagen nicht miteinander im Streit. Die beiden jungen Leute bestachen einen Klosterbruder und heirateten heimlich. Das eigentliche Drama begann erst, als Mariotto einen prominenten Bürger tötete und daraufhin in die Verbannung gehen musste. Währenddessen verlangten Giannozzas Eltern - nicht wissend, dass ihre Tochter bereits verheiratet war -, sie solle einen anderen Mann ehelichen. In ihrer Verzweiflung ließ Giannozza den Klosterbruder einen starken Schlaftrunk brauen, der sich als so wirkungsvoll erwies, dass ihre dämlichen Eltern sie für tot hielten und

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