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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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eingeschenkt hatte - in einem früheren Leben.
    In dem Moment klopfte es an der Tür.
    »Schhh!« Maestro Ambrogio drohte dem bellenden Hund mit dem Finger. »Warum rechnest du immer gleich mit dem Schlimmsten? Vielleicht ist es ja ein weiterer Engel.« Doch als er die Tür öffnete, um zu sehen, welchen Dämon ihm das Schicksal um diese unchristliche Stunde vorbeischickte, stellte er fest, dass Dante diesmal richtiger gelegen hatte als er.
    Draußen im flackernden Licht einer Wandfackel stand Romeo Marescotti. Das täuschend schöne Gesicht des jungen Mannes wurde von einem betrunkenen Grinsen verzerrt. Abgesehen von ihrer erst wenige Stunden zurückliegenden Begegnung kannte Maestro Ambrogio den jungen Mann nur allzu gut, denn im Vormonat hatten ihm die männlichen Vertreter der Familie Marescotti einer nach dem anderen Modell gesessen, weil ihre Gesichtszüge Aufnahme in einem imposanten neuen Wandgemälde im Palazzo Marescotti finden sollten. Das Familienoberhaupt, Comandante Marescotti, hatte auf einer Darstellung seines Clans von der Vergangenheit bis in die Gegenwart bestanden, wobei sämtliche angeblichen Vorfahren - darunter auch ein paar sehr unwahrscheinliche - in die Mitte mussten und alle irgendwie bei der berühmten Schlacht von Montaperti mitmischten, während die lebenden Vertreter, verkleidet als die sieben Tugenden, über ihnen am Himmel schwebten. Zur großen Erheiterung aller hatte Romeo das Los gezogen, das am wenigsten zu ihm passte, so dass Maestro Ambrogio sich am Ende gezwungen sah, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart zu verfälschen, indem er die majestätische Gestalt auf dem Thron der Keuschheit mit den Gesichtszügen des verrufensten Herzensbrechers von Siena versah.
    Nun schob die fleischgewordene Keuschheit ihren freundlichen Schöpfer zur Seite und trat in das Atelier, wo der Sarg noch immer - verschlossen - mitten auf dem Boden stand. Der junge Mann brannte sichtlich darauf, ihn zu öffnen und einen weiteren Blick auf die darin liegende Leiche zu werfen, doch dazu hätte er so unhöflich sein müssen, die Palette des Maestro sowie mehrere feuchte Pinsel zu entfernen, die mittlerweile auf dem Sargdeckel ruhten. »Habt Ihr das Gemälde schon fertiggestellt?«, fragte er stattdessen. »Ich möchte es sehen.«
    Maestro Ambrogio zog behutsam die Tür hinter ihnen zu. Ihm war nur allzu bewusst, dass sein Besucher zu viel getrunken hatte, um noch richtig fest auf beiden Beinen zu stehen. »Warum wollt Ihr das Bild eines toten Mädchens sehen? Ich bin sicher, dort draußen laufen genügend lebende herum.«
    »Das stimmt«, räumte Romeo ein, während er sich suchend umblickte und den Neuzugang schließlich entdeckte, »aber das wäre zu einfach, nicht wahr?« Er trat geradewegs vor das Porträt und studierte es mit fachmännischem Blick. Allerdings war er kein Fachmann für Kunst, sondern für Frauen. Nach einer Weile nickte er. »Nicht schlecht. Vor allem die Augen sind sehr gelungen. Wie habt Ihr ... ?«
    »Ich danke Euch«, fiel ihm der Maestro hastig ins Wort, »aber die wahre Kunst kommt von Gott. Noch einen Schluck Wein?«
    »Gern.« Der junge Mann griff nach dem Becher und ließ sich auf dem Sargdeckel nieder, wobei er darauf achtete, nicht mit den tropfenden Pinseln in Berührung zu kommen. »Was haltet Ihr von einem Trinkspruch auf Euren Freund Gott und all die Spiele, die er mit uns spielt?«
    »Es ist schon sehr spät«, bemerkte Maestro Ambrogio, während er die Palette entfernte und neben Romeo auf dem Sarg Platz nahm. »Ihr müsst müde sein, mein Freund.«
    Romeo, der wie gebannt auf das Bild vor ihm starrte, konnte den Blick nicht lange genug abwenden, um den Maler anzusehen. Als er schließlich antwortete, sprach aus seiner Stimme eine Aufrichtigkeit, die sogar ihm selbst neu war. »Ich fühle mich nicht so müde«, sagte er, »wie ich mich wach fühle. Ich frage mich, ob ich je zuvor so wach war.«
    »Das kommt häufig vor, wenn man sich schon fast im Halbschlaf befindet. Erst dann geht das innere Auge wirklich auf.«
    »Aber ich schlafe nicht, und ich möchte auch nicht schlafen. Ich werde nie wieder schlafen. Stattdessen werde ich jede Nacht hierherkommen, glaube ich!«
    Erheitert über die Inbrunst dieses Ausrufs - ein höchst beneidenswertes Privileg der Jugend - blickte Maestro Ambrogio lächelnd zu seinem Meisterwerk empor. »Demnach scheint sie Euch zu gefallen?«
    »Gefallen?« Romeo verschluckte sich fast an dem Wort. »Ich vergöttere

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