Julia
umgehend bestatteten. Zum Glück konnte der brave alte Klosterbruder sie aus der Gruft befreien, woraufhin Giannozza klammheimlich per Schiff nach Alexandrien reiste, wo Mariotto das süße Leben genoss. Allerdings war der Bote, der ihren Gatten von dem Plan mit dem Schlaftrunk in Kenntnis setzen sollte, von Piraten gefangen genommen worden, so dass Mariotto, als er die Nachricht von Giannozzas Tod erfuhr, sofort zurück nach Siena sauste, um an ihrer Seite zu sterben. Dort angekommen, wurde er von Soldaten aufgegriffen und geköpft. Zack. Und Giannozza verbrachte den Rest ihres Lebens weinend im Kloster, wo sie eine Kleenexschachtel nach der anderen leerte.
Soweit ich es beurteilen konnte, wies diese Originalversion folgende Schlüsselelemente auf: die heimliche Heirat, Romeos Verbannung, den schwachsinnigen Plan mit dem Schlaftrunk, den verlorengehenden Boten und Romeos bewusstes Selbstmordkommando, das sich auf seine irrige Annahme stützte, Julia sei tot.
Der Knüller war natürlich, dass sich das Ganze angeblich in Siena zugetragen hatte. Wäre Malèna da gewesen, hätte ich sie fragen können, ob es sich dabei um eine allgemein bekannte Geschichte handelte. Ich hatte den starken Verdacht, dass dem nicht so war.
Interessanterweise war Luigi da Porto, als er die Geschichte ein halbes Jahrhundert später übernahm, ebenfalls darauf bedacht, sie in der Realität zu verankern, beispielsweise, indem er Romeo und Giulietta ihre wahren Vornamen zurückgab. Allerdings kniff er, was den Ort der Handlung betraf: Er verlegte das Ganze nach Verona und änderte sämtliche Familiennamen höchstwahrscheinlich, um nicht die Rache der mächtigen Familien herauszufordern, die in den Skandal verwickelt waren.
Doch Logistik hin oder her, aus meiner - durch mehrere Tassen Cappuccino gestützten - Sicht erzählte da Porto die weitaus unterhaltsamere Geschichte. Er war derjenige, der den Maskenball und die Balkonszene einführte, und auch der Doppelselbstmord entsprang seinem genialen Gehirn. Lediglich die Tatsache, dass er Julia sterben ließ, indem sie die Luft anhielt, leuchtete mir nicht auf Anhieb ein. Aber vielleicht war da Porto damals der Meinung, sein Publikum würde eine blutige Sterbeszene nicht schätzen ... Skrupel, die Shakespeare glücklicherweise nicht teilte.
Nach da Porto hatte sich jemand namens Bandello dazu berufen gefühlt, eine dritte Version zu schreiben, und dabei eine Menge melodramatischer Dialoge hinzugefügt, ohne jedoch - zumindest, soweit ich es auf die Schnelle überblicken konnte -die grundlegenden Handlungsstränge zu verändern. Ab diesem Zeitpunkt aber war die Geschichte für die Italiener erledigt. Nach einer Zwischenstation in Frankreich trat sie die Reise nach England an, um dort schließlich auf Shakespeares Schreibtisch zu landen - bereit, Unsterblichkeit zu erlangen.
Meiner Einschätzung nach bestand der größte Unterschied zwischen all diesen literarischen Versionen und Maestro Ambrogios Tagebuch darin, dass in Wirklichkeit nicht nur zwei, sondern drei Familien in die Sache verwickelt gewesen waren. Die Fehde hatte zwischen den Häusern der Tolomeis und Salimbenis bestanden - sozusagen den Capulets und Montagues -, während Romeo in Wirklichkeit ein Marescotti und somit ein Außenseiter war. In dieser Hinsicht kam Salernitanos sehr frühe Version der Wahrheit am nächsten. Seine Geschichte spielte in Siena, und von einer Familienfehde war darin nicht die Rede.
Als ich später mit Maestro Ambrogios Tagebuch unter dem Arm von der Fortezza zurückschlenderte und dabei all die fröhlichen Leute um mich herum betrachtete, spürte ich erneut eine unsichtbare Wand zwischen ihnen und mir: Sie gingen spazieren, joggten oder aßen Eis, ohne die Vergangenheit in Frage zu stellen. Bestimmt empfand niemand von ihnen - so wie ich - das quälende Gefühl, nicht ganz in diese Welt zu gehören.
Morgens hatte ich vor dem Badezimmerspiegel die Halskette mit dem Kruzifix anprobiert und beschlossen, sie von nun an zu tragen. Immerhin hatte die Kette meiner Mutter gehört, und da sie das Schmuckstück damals in der Truhe ließ, hatte sie eindeutig gewollt, dass ich es bekam. Vielleicht, dachte ich, würde es mich irgendwie vor dem Fluch beschützen, der ihr einen so frühen Tod beschert hatte.
War ich verrückt? Vielleicht. Wobei es ja viele verschiedene Arten von Wahnsinn gibt. Tante Rose hatte immer behauptet, dass sich die ganze Welt in einem Zustand ständig fluktuierenden Irrsinns befand, und dass
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