Julia
gehört. »Glauben Sie mir, Giulietta ...« - sie legte mir eine Hand an die Wange -, »es ist hier in Siena passiert. Lange Zeit vor Shakespeare. Und hier sehen Sie die beiden, dort oben an dieser Wand. Romeo ist auf dem Weg ins Exil, und Julia ist gezwungen, sich auf die Heirat mit einem ungeliebten Mann vorzubereiten.« Angesichts meiner entsetzten Miene musste sie lächeln und ließ mich los. »Keine Sorge. Wenn Sie mich besuchen kommen, können wir ausführlicher über diese traurigen Dinge sprechen. Was machen Sie denn heute Abend?«
In der Hoffnung, mir meinen Schock über ihre Vertrautheit mit meiner Familiengeschichte nicht anmerken zu lassen, trat ich einen Schritt zurück. »Meinen Balkon aufräumen.«
Eva Maria geriet nicht mal für eine Sekunde aus der Fassung. »Ich möchte, dass Sie mich hinterher zu einem sehr schönen Konzert begleiten. Hier ...« - sie wühlte kurz in ihrer Handtasche und zog eine Eintrittskarte heraus -, »es ist ein wundervolles Programm. Ich habe es selbst ausgesucht. Das wird Ihnen bestimmt gefallen. Sieben Uhr. Danach essen wir zu Abend, und ich erzähle Ihnen mehr über unsere Vorfahren.«
Auf dem Weg zum Konzertsaal spürte ich, dass irgendetwas an mir nagte. Es war ein schöner Abend, in der Stadt wimmelte es nur so von fröhlichen Leuten, aber ich war nicht in der Lage, an dem Spaß teilzuhaben. Während ich die Straße entlangeilte und dabei nur Augen für das vor mir liegende Pflaster hatte, schaffte ich es schließlich, in mich hineinzuhorchen und den Grund für mein ungutes Gefühl zu identifizieren. Ich wurde manipuliert.
Seit meiner Ankunft in Siena schienen alle möglichen Leute nur darauf zu warten, mir zu sagen, was ich zu tun und zu denken hatte. Allen voran Eva Maria. Sie fand es offenbar ganz normal, dass ihre eigenen bizarren Wünsche und Pläne mein Tun und Handeln - ja sogar meinen Kleidungsstil - bestimmten, und nun versuchte sie auch noch meine Gedankengänge zu steuern. Mal angenommen, ich hatte gar keine Lust, die Ereignisse von 1340 mit ihr zu diskutieren? Pech gehabt, denn mir blieb keine andere Wahl. Trotzdem mochte ich sie auf irgendeine seltsame Art. Wie kam das? Lag es vielleicht daran, dass sie das genaue Gegenteil von Tante Rose war, die immer solche Angst davor gehabt hatte, etwas falsch zu machen, dass sie auch nie etwas richtig gemacht hatte? Oder mochte ich Eva Maria, weil ich das eigentlich nicht sollte? Umberto hätte das bestimmt so gesehen. Die beste Methode, mich in die Arme der Salimbenis zu treiben, bestand darin, mir zu sagen, ich solle mich um Gottes willen von ihnen fernhalten. Schätzungsweise war das typisches Julia-Verhalten.
Tja, vielleicht war es nun an der Zeit, dass Julia mal ihren Kopf einschaltete. Laut Presidente Maconi blieben die Salimbenis immer die Salimbenis, und laut meinem Cousin Peppo bedeutete das großes Leid für jeden Tolomei, der ihnen im Weg stand. Das galt nicht nur im stürmischen Mittelalter. Selbst jetzt, im heutigen Siena, hatte der Geist des möglichen Mörders Luciano Salimbeni die Bühne noch nicht verlassen.
Andererseits fragte ich mich, ob nicht gerade diese Art Vorurteile die alte Familienfehde über Generationen hinweg am Leben erhalten hatte. Vielleicht hatte der flüchtige Luciano Salimbeni niemals Hand an meine Eltern gelegt, sondern war lediglich aufgrund seines Namens verdächtigt worden? Kein Wunder, dass er sich rar gemacht hatte. An einem Ort, wo man allein schon wegen seiner familiären Bande für schuldig erklärt wurde, ist nicht damit zu rechnen, dass der Scharfrichter geduldig das Ende eines Prozesses abwarten wird.
Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr neigte sich die Waagschale in Richtung Eva Maria. Immerhin schien ihr am meisten von allen daran gelegen zu beweisen, dass wir - trotz der Rivalität unserer Vorfahren - befreundet sein konnten. Falls dem tatsächlich so war, wollte ich bestimmt nicht die Spielverderberin geben.
Das abendliche Konzert wurde von der Musikakademie Chigiana im Palazzo Chigi-Saracini veranstaltet, gleich gegenüber dem Friseursalon meines Freundes Luigi. Ich betrat das Gebäude durch eine überdachte Passage und kam in einem Innenhof mit einer Loggia und einem alten Brunnen in der Mitte wieder heraus. Bei seinem Anblick ging mir durch den Kopf, dass früher bestimmt Ritter in schimmernder Rüstung aus diesem Brunnen Wasser für ihre Kampfrosse geschöpft hatten. Die Steinfliesen unter meinen hochhackigen Sandalen fühlten sich ganz glatt
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