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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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an, jahrhundertelang abgeschliffen von Pferdehufen und Wagenrädern. Der Hof war weder zu groß noch zu imposant, sondern besaß eine ganz eigene, ruhige Würde, die mich darüber nachdenken ließ, ob die Dinge, die außerhalb dieses zeitlosen Rechtecks vor sich gingen, wirklich so wichtig waren.
    Während ich dort stand und zu dem Deckenmosaik unter der Loggia hinaufblickte, reichte mir ein Angestellter eine Broschüre und zeigte mir die Tür, durch die man hinauf zum Konzertsaal gelangte. Im Gehen warf ich einen Blick auf die Broschüre. Ich hatte mit einer Auflistung des musikalischen Programms gerechnet, doch stattdessen handelte es sich um eine kurze Geschichte des Gebäudes in mehreren Sprachen. Der Text begann folgendermaßen:
     
    Palazzo Chigi-Saracini, einer der schönsten Palazzi von Siena, gehörte ursprünglich der Familie Marescotti. Das Kernstück des Gebäudes ist sehr alt, aber im Mittelalter begann die Familie Marescotti, die Nachbargebäude mit einzubeziehen und - wie viele andere mächtige Familien von Siena — einen großen Turm zu errichten. Von diesem Turm wurde 1260 durch eine Trommel oder ein Tamburin der Sieg von Montaperti verkündet.
     
    Ich blieb mitten auf der Treppe stehen, um den Abschnitt ein zweites Mal zu lesen. Wenn das stimmte und ich die Namen aus Maestro Ambrogios Tagebuch nicht völlig durcheinanderbrachte, dann war das Gebäude, in dem ich gerade stand, ursprünglich der Palazzo Marescotti gewesen, also im Jahre 1340 Romeos Zuhause.
    Erst, als sich andere Leute verärgert an mir vorbeischoben, schüttelte ich meine Überraschung ab und ging weiter. Selbst wenn es tatsächlich Romeos Zuhause gewesen war, was bedeutete das schon? Ihn und mich trennten fast siebenhundert Jahre, außerdem hatte er damals seine eigene Julia gehabt. Trotz meiner neuen Klamotten und Frisur war ich nur ein schlaksiger Ableger jener perfekten Kreatur, die einst in dieser Stadt gelebt hatte.
    Janice hätte über meine romantischen Gedanken herzlich gelacht. »Nun ist es mal wieder so weit«, hätte sie gespottet, »Jules träumt von einem Mann, den sie nicht haben kann.« Und sie hätte damit ganz richtig gelegen. Aber manchmal sind das einfach die besten.
    Meine seltsame, fast schon an Besessenheit grenzende Schwärmerei für historische Gestalten hatte ihren Anfang genommen, als ich neun war, und zwar mit Präsident Jefferson. Während alle anderen - einschließlich Janice - Poster von Popgrößen mit entblößter Bauchmuskulatur an der Wand hängen hatten, war mein Zimmer ein Schrein für meinen Lieblings-Gründervater. Ich hatte mühevoll gelernt, wie man Thomas in kalligraphischen Buchstaben schrieb, und sogar ein riesiges T auf ein Kissen gestickt, das ich jeden Abend beim Einschlafen im Arm hielt. Unglücklicherweise war Janice auf mein geheimes Notizbuch gestoßen, das sie daraufhin in der Klasse herumgehen ließ. Alle johlten vor Lachen, als sie meine phantasievollen Zeichnungen sahen: Ich mit Schleier und Brautkleid vor dem Landsitz Monticello, Hand in Hand mit einem sehr muskulösen Präsident Jefferson.
    Von da an nannten mich alle Jeff, sogar die Lehrer, obwohl Letztere keine Ahnung hatten, warum sie das taten, und mich erstaunlicherweise auch niemals zusammenzucken sahen, wenn sie mich im Unterricht aufriefen. Irgendwann meldete ich mich dann gar nicht mehr, sondern saß nur noch stumm in der letzten Reihe, wo ich mich in der Hoffnung, von niemandem bemerkt zu werden, hinter meinem Haar versteckte.
    An der Highschool verlegte ich mich - dank Umberto - auf die Antike und schwärmte zunächst für Leonidas, den Spartaner, dann für Scipio, den Römer, und schließlich sogar eine Weile für Kaiser Augustus, bis ich seine dunkle Seite entdeckte. Als ich ins College eintrat, hatte ich meine Zeitreise in die Vergangenheit so weit ausgedehnt, dass mein Held mittlerweile ein namenloser Höhlenbewohner war, der in der russischen Steppe ganz auf sich allein gestellt wollige Mammuts tötete und bei Vollmond auf seiner Knochenflöte Jagdmelodien spielte.
    Die Einzige, die mich darauf hinwies, was alle meine Freunde gemeinsam hatten, war natürlich Janice. »Zu schade«, sagte sie eines Abends, nachdem wir unser Zelt im Garten bezogen hatten und es ihr gelungen war, mir im Austausch gegen Karamellbonbons, die ursprünglich mir gehört hatten, nacheinander alle meine Geheimnisse zu entlocken, »dass sie alle mausetot sind.«
    »Nein, das sind sie nicht!«, protestierte ich. Zu diesem Zeitpunkt bereute

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