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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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im Schatten und hielt mich an die ruhigeren Straßen. Während ich so durch die Dunkelheit marschierte und dabei mehr hoffte als wusste, dass ich mich in die richtige Richtung bewegte, war ich in Gedanken noch ganz bei meinem Streitgespräch mit Alessandro - insbesondere, weil mir im Nachhinein so viele brillante Sachen einfielen, die ich hätte sagen können, aber nicht gesagt hatte. Deswegen dauerte es eine ganze Weile, bis ich merkte, dass mir jemand folgte.
    Anfangs war es nur das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, aber schon bald bemerkte ich immer wieder leise Geräusche, die mir verrieten, dass jemand hinter mir herschlich. Jedes Mal, wenn ich beschleunigte, konnte ich Stoffrascheln und das Geräusch weicher Sohlen hören, doch sobald ich mein Tempo verlangsamte, verstummte das Rascheln, und es herrschte eine bedrohliche Stille, die ich fast noch schlimmer fand.
    Als ich abrupt in irgendeine Seitenstraße einbog, gelang es mir, aus dem Augenwinkel eine Bewegung und die schemenhafte Gestalt eines Mannes wahrzunehmen. Wenn ich mich nicht sehr täuschte, war es der gleiche Typ, der mir schon ein paar Tage zuvor gefolgt war, nachdem ich mit der Truhe meiner Mutter die Bank im Palazzo Tolomei verlassen hatte. Anscheinend hatte mein Gehirn diese erste Begegnung mit ihm unter dem Stichwort >Gefahr< abgespeichert, und da es nun Gestalt und Gang des Kerls wiedererkannt hatte, löste es einen ohrenbetäubenden Evakuierungsalarm aus, der alle rationalen Gedanken aus meinem Kopf vertrieb und mich zwang, meine Schuhe abzustreifen und - zum zweiten Mal an diesem Abend - zu rennen, so schnell ich konnte.
     

III.II
    Liebt ich wohl je? Nein, schwör es ab, Gesicht!
    Du sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht
     
    Siena, im Jahre 1340
     
    Übermut lag in der Nachtluft.
    Sobald Romeo und seine Cousins außer Sichtweite des Marescotti-Turms waren, stürzten sie um eine Straßenecke und rangen vor Lachen nach Luft. An diesem Abend war es gar keine richtige Herausforderung für sie gewesen, aus dem Haus zu entwischen, denn im Palazzo Marescotti wimmelte es nur so vor Verwandten, die aus Bologna zu Besuch waren. Romeos Vater, Comandante Marescotti, hatte widerwillig ein Bankett mit Musikanten anberaumt, um seine Gäste zu unterhalten. Was hatte Bologna schon zu bieten, womit Siena nicht in zehnfacher Ausfertigung aufwarten konnte?
    Da Romeo und seine Cousins sehr genau wussten, dass sie wieder einmal gegen die Ausgangssperre des Comandante verstießen, blieben sie einen Moment stehen, um die farbenfrohen Karnevalsmasken festzuzurren, die sie bei ihren nächtlichen Eskapaden immer trugen. Während sie dort so standen und mit Knoten und Schleifen kämpften, kam der Familienmetzger mit einer Ladung Schinken für das Fest vorbei, begleitet von einem Helfer mit Fackel, doch er war klug genug, die Jünglinge nicht zu erkennen. Als zukünftiger Herr über den Palazzo Marescotti würde Romeo eines Tages derjenige sein, der für die Bestellungen bezahlte.
    Als die Masken schließlich bequem saßen, setzten die jungen Männer ihre Samthüte wieder auf und rückten beides - Maske und Hut - so zurecht, dass von ihrem Gesicht möglichst wenig zu erkennen war. Amüsiert über den Anblick seiner Freunde, griff einer von ihnen nach der Laute, die er mitgebracht hatte, und zupfte ein paar fröhliche Akkorde. »Giu-hu-hu-lietta!«, sang er in übertriebenem Falsett, »ich war' so gern dein Vö-hö-gelchen, dein kleines lüstern Vö-hö-hö-hö-högelchen ...« Er fing an, nach Art eines Vogels herumzuhüpfen, bis alle außer Romeo vor Lachen fast erstickten.
    »Sehr witzig!«, knurrte dieser. »Wenn du dich noch lange über meine Wunden lustig machst, werde ich dir ein paar eigene verpassen!«
    »Los«, sagte ein anderer voller Ungeduld, »wenn wir uns nicht beeilen, liegt sie schon im Bett, und statt einer Serenade kannst du ihr nur noch ein Schlaflied singen.«
    Allein in Schritten gemessen war der Weg, der an diesem Abend vor ihnen lag, nicht lang, kaum fünfhundert Meter. In jeder anderen Hinsicht aber war es eine Odyssee. Trotz der späten Stunde wimmelte es auf den Straßen nur so von Menschen - Einheimische vermischten sich mit Fremden, Käufer mit Verkäufern, Pilger mit Dieben -, und an jeder Straßenecke stand ein Prophet mit einer Wachskerze, der lautstark die materielle Welt verurteilte, während er gleichzeitig jede vorbeikommende Prostituierte mit demselben Blick strenger Entsagung verfolgte, den man auch bei Hunden

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