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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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um meine Arme und Beine, als wollte er mich aus dem Gleichgewicht werfen. Als ich nach dem Türrahmen griff, um mich festzuhalten, wurde der Wind noch stärker und begann an meinen Haaren und Kleidern zu zerren. Unter wütendem Geheul mühte er sich ab, mich über die Schwelle zu ziehen. Seine Kraft war so groß, dass der Türrahmen sich zu lösen begann und der Boden unter mir bereits bröckelte. Verzweifelt bemüht, mich in Sicherheit zu bringen, ließ ich den Türrahmen los und versuchte dorthin zurückzulaufen, wo ich hergekommen war, zurück ins Innere des Schlosses, doch ein endloser Strom unsichtbarer Dämonen - die mir alle voller Spott die vertrauten Shakespeare-Zitate zuzischten - umschwärmte mich von allen Seiten, begierig danach, endlich aus dem Schloss zu entkommen und mich in ihrem Windschatten mitzureißen.
    Als ich schließlich zu Boden stürzte und langsam auf den bröckelnden Rand zurutschte, versuchte ich verzweifelt, irgendetwas Festes zu fassen zu bekommen. Genau in dem Moment, als ich über den Rand zu fallen drohte, kam jemand in einem schwarzen Motorradanzug auf mich zugestürzt und packte mich an den Armen, um mich hochzuziehen. »Romeo!«, rief ich und streckte den Arm nach ihm aus, doch als ich zu ihm aufblickte, sah ich, dass hinter dem Visier des Helms kein Gesicht war, sondern nur Leere.
    Danach gab es kein Halten mehr, ich fiel immer tiefer und tiefer ... bis ich in Wasser eintauchte. Plötzlich befand ich mich wieder am Hafen von Alexandria in Virginia, wo ich wild um mich schlagend in einer Suppe aus Seetang zu ertrinken drohte, während Janice und ihre Freundinnen Eis essend am Pier standen und vor Lachen brüllten.
    Genau in dem Moment, als ich hochkam, um nach Luft zu schnappen und gleichzeitig zu versuchen, eine Anlegeleine zu fassen zu bekommen, wachte ich mit einem Keuchen auf und fand mich auf Maestro Lippis Couch wieder. An meinen Beinen spürte ich eine raue, zu einem Häufchen gestrampelte Decke, und an meiner Hand Dantes Zunge.
    »Guten Morgen.« Der Maestro stellte eine große Tasse Kaffee vor mich hin. »Dante mag Shakespeare nicht. Er ist ein sehr kluger Hund.«
    Als ich an diesem Vormittag bei strahlendem Sonnenschein zum Hotel zurückging, kamen mir die Ereignisse der vergangenen Nacht seltsam irreal vor, als hätte jemand das Ganze zu seinem eigenen Vergnügen als große Theateraufführung inszeniert. Erst das Abendessen mit den Salimbenis, dann meine Flucht durch die dunklen Straßen, schließlich mein bizarres Asyl in Maestro Lippis Atelier ... das alles war der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind, und der einzige Beweis dafür, dass es tatsächlich passiert war, schienen der Schmutz und die Schrammen an meinen Fußsohlen zu sein.
    Letztendlich aber war es passiert, und je eher ich aufhörte, mich in einem falschen Gefühl der Sicherheit zu wiegen, desto besser. Bereits zum zweiten Mal hatte mich jemand verfolgt, und zwar nicht nur irgendein Kerl im Trainingsanzug, sondern zusätzlich ein Mann auf einem Motorrad, mit welchem Motiv auch immer. Hinzu kam, dass Alessandro ein zunehmend größeres Problem darstellte, weil er zweifellos meine Polizeiakte kannte und nicht zögern würde, sie gegen mich zu verwenden, falls ich seiner kostbaren Patentante noch einmal zu nahe kam.
    Das alles waren hervorragende Gründe, verdammt schnell das Weite zu suchen, aber Julie Jacobs lief nicht davon, und ebenso wenig - das spürte ich - Giulietta Tolomei. Immerhin stand ein recht beträchtlicher Schatz auf dem Spiel. Vorausgesetzt, Maestro Lippis Geschichten stimmten und ich schaffte es irgendwann, Julias Grab ausfindig zu machen und die legendäre Statue mit den Saphiraugen in die Finger zu bekommen.
    Vielleicht war das mit der Statue ja auch purer Schwachsinn. Vielleicht bestand die große Belohnung, die ich am Ende meiner ganzen Entbehrungen absahnen sollte, lediglich in der Erkenntnis, dass ein paar Irre mich für die Nachfahrin einer Shakespeareheldin hielten. Tante Rose hatte mir immer vorgeworfen, dass ich zwar ein Stück auswendig aufsagen könne, notfalls vielleicht sogar rückwärts, mich aber eigentlich nicht für die Literatur oder die Liebe interessierte. Ihr zufolge würde ich eines Tages schon sehen, wie der große fette Scheinwerfer der Wahrheit anging und mir die Irrtümer meines Lebens aufzeigte.
    Eine meiner ersten Erinnerungen an Tante Rose war, wie sie spätabends im Licht einer einzigen Lampe an dem großen Mahagonischreibtisch saß und durch eine Lupe

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