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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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einen riesigen Papierbogen studierte. Ich weiß noch genau, wie sich die Teddybärenpfote anfühlte, die ich mit einer Hand umklammert hielt, und welche Angst ich hatte, sofort zurück ins Bett geschickt zu werden. Erst bemerkte sie mich gar nicht, doch als sie mich schließlich entdeckte, fuhr sie erschrocken zusammen, als wäre ihr ein kleiner Geist erschienen. Als Nächstes kann ich mich daran erinnern, wie ich auf ihrem Schoß saß und auf das weite Meer aus Papier hinausblickte.
    »Sieh durch das Vergrößerungsglas«, sagte sie und hielt mir die Lupe hin. »Das ist unser Familienstammbaum, und da ist deine Mutter.«
    Ich weiß noch, dass ich für einen Moment schrecklich aufgeregt war, dann aber schwer enttäuscht. Es handelte sich gar nicht um ein Bild meiner Mutter, sondern nur um eine Zeile aus Buchstaben, die ich noch nicht lesen konnte. »Was steht da?«, habe ich Tante Rose damals wohl gefragt, denn ich kann mich noch allzu gut an ihre Antwort erinnern.
    »Da steht«, erwiderte sie ungewohnt theatralisch, »liebe Tante Rose, bitte pass gut auf mein kleines Mädchen auf. Sie ist etwas ganz Besonderes, und sie fehlt mir so.« In dem Moment stellte ich zu meinem großen Entsetzen fest, dass meine Tante weinte. Noch nie zuvor hatte ich einen erwachsenen Menschen weinen sehen. Ich war bis dahin gar nicht auf die Idee gekommen, dass Erwachsene dazu in der Lage sein könnten.
    Als Janice und ich älter wurden, rückte Tante Rose hin und wieder mit einer Kleinigkeit über unsere Mutter heraus, lieferte uns aber niemals das ganze Bild. Nachdem wir dann beide am College angefangen und ein wenig Rückgrat entwickelt hatten, gingen wir mal an einem besonders schönen Tag mit ihr nach draußen in den Garten, ließen sie an einem Tisch Platz nehmen, auf dem schon Kaffee und Muffins bereitstanden, und baten sie ganz bewusst, uns die komplette Geschichte zu erzählen. Das war ein seltener Moment der Übereinstimmung zwischen meiner Schwester und mir. Gemeinsam überschütteten wir unsere Tante mit Fragen: Wie waren unsere Eltern gewesen -abgesehen von der Tatsache, dass sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren? Und warum hatten wir keinen Kontakt mit Leuten in Italien, obwohl doch in unseren Pässen stand, dass wir dort geboren waren?
    Tante Rose hörte uns ganz still zu, ohne die Muffins auch nur anzurühren, und als wir fertig waren, nickte sie. »Ihr habt ein Recht darauf, diese Fragen zu stellen, und eines Tages werdet ihr die Antworten bekommen. Bis dahin aber müsst ihr Geduld haben. Es ist zu eurem eigenen Besten, dass ich euch so wenig über eure Familie erzählt habe.«
    Ich begriff nicht, warum es etwas Schlechtes sein sollte, alles über die eigene Familie zu wissen. Oder zumindest ein wenig. Trotzdem respektierte ich, dass dieses Thema Tante Rose unangenehm war, und verschob den unvermeidlichen Konflikt auf später. Eines Tages würde ich sie Platz nehmen lassen und eine Erklärung von ihr verlangen. Eines Tages würde sie mir alles sagen. Selbst später, als sie achtzig wurde, vertraute ich immer noch darauf, dass sie eines Tages all unsere Fragen beantworten würde. Nun aber konnte sie das nicht mehr.
     
    Als ich das Hotel betrat, telefonierte Direttor Rossini gerade im Hinterzimmer, deswegen blieb ich kurz stehen, um zu warten, bis er wieder herauskam. Auf dem Rückweg von Maestro Lippis Atelier hatte ich über die Bemerkungen nachgedacht, die der Künstler im Zusammenhang mit seinem spätabendlichen Besucher namens Romeo hatte fallenlassen. Ich fand, dass es höchste Zeit war, mich etwas eingehender mit der Familie Marescotti und ihren eventuell existierenden Nachfahren zu beschäftigen.
    Der erste logische Schritt war wohl, Direttor Rossini um ein Telefonbuch der Stadt zu bitten, und genau das hatte ich jetzt vor. Nachdem ich mindestens zehn Minuten gewartet hatte, gab ich erst einmal auf und beugte mich über den Tresen, um meinen Zimmerschlüssel von der Wand zu fischen.
    Frustriert, weil ich Maestro Lippi nicht über die Marescottis ausgefragt hatte, als sich die Gelegenheit bot, stieg ich langsam die Treppe hinauf. Die Schnitte an meinen Fußsohlen schmerzten bei jedem Schritt. Dass ich normalerweise keine hochhackigen Schuhe trug, erwies sich dabei auch nicht gerade als hilfreich, insbesondere in Anbetracht der vielen Kilometer, die ich in den letzten zwei Tagen zu Fuß zurückgelegt hatte. Kaum aber hatte ich die Tür zu meinem Zimmer geöffnet, vergaß ich schlagartig all meine

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