Julia
am Leib trug. Deswegen sind sie alle nicht erhalten.«
»Dann muss er doch wenigstens ein bisschen was wert sein«, beharrte ich. »Wenn er schon solchen Seltenheitswert besitzt, meine ich.«
»Geld-Geld-Geld«, höhnte er. »Geld ist nicht alles. Verstehst du denn nicht? Es geht hier um die Geschichte von Siena!«
Der Enthusiasmus meines Cousins stand in krassem Gegensatz zu meiner eigenen Stimmung. Allem Anschein nach hatte ich mein Leben an diesem Vormittag für ein rostiges altes Messer und eine verblichene Fahne aufs Spiel gesetzt. Ja, es war ein Cencio und als solcher für die Einwohner Sienas ein unschätzbar wertvoller, fast schon magischer Kunstgegenstand, doch falls ich damit jemals die Stadtmauern verließ, wurde daraus leider ein völlig wertloser alter Lumpen.
»Was ist mit dem Messer?«, fragte ich. »Hast du das schon mal gesehen?«
Peppo wandte sich wieder dem Tisch zu und griff nach dem Messer. »Das hier«, erklärte er, während er die rostige Klinge aus der Scheide zog und im Licht des Lüsters betrachtete, »ist ein Dolch. Eine sehr praktische Waffe.« Die Gravur nahm er besonders genau in Augenschein, wobei er ein paarmal nachdenklich nickte, weil die ganze Geschichte - zumindest seiner Miene nach zu urteilen - allmählich einen Sinn ergab. »Ein Adler. Natürlich. Und dieser Dolch war zusammen mit dem Cencio von 1340 versteckt. Dass ich das noch erleben darf! Warum hat er mir die Sachen nie gezeigt? Er hat wahrscheinlich gewusst, was ich dazu sagen würde. Dass diese Schätze ganz Siena gehören, und nicht nur den Tolomeis.«
Ich rieb mir die Stirn. »Was soll ich denn jetzt mit den Sachen machen, Peppo?«
Er sah mich an, wirkte dabei aber seltsam abwesend, als befände er sich nur zum Teil in der Gegenwart und zum Teil im Jahre 1340. »Erinnerst du dich daran, wie ich dir gesagt habe, dass deine Eltern der Meinung waren, Romeo und Julia hätten hier gelebt, in Siena? Jedenfalls gab es 1340 einen Palio, der für viel Aufregung sorgte. Es heißt, der Cencio sei damals verschwunden - dieser Cencio, der hier vor uns liegt -, und ein Mann sei beim Rennen ums Leben gekommen. Es heißt außerdem, Romeo sei bei jenem Palio mitgeritten. Wenn du mich fragst, ist das hier sein Dolch.«
Endlich siegte meine Neugier über die Enttäuschung. »Hat er gewonnen?«
»Das weiß ich nicht genau. Manche behaupten, er sei derjenige gewesen, der ums Leben kam. Aber glaube mir ...« - bei diesen Worten verengten sich seine Augen -, »die Marescottis würden alles dafür tun, um das hier in die Finger zu bekommen.«
»Willst du damit sagen, die Marescottis, die heute noch in Siena leben?«
Peppo zuckte mit den Achseln. »Über den Cencio kann man streiten, aber der Dolch gehörte auf jeden Fall Romeo. Siehst du den eingravierten Adler hier auf dem Heft? Hast du eine Vorstellung davon, was für ein Schatz das für sie wäre?«
»Ich nehme an, ich könnte ihn ihnen zurückgeben und ...«
»Nein!« Die trunkene Freude in den Augen meines Cousins machte jetzt anderen Emotionen Platz, die ihm wesentlich weniger gut zu Gesichte standen. »Du musst ihn hierlassen! Dieser Schatz gehört ganz Siena, nicht nur den aquilini oder den Marescottis. Du hast sehr gut daran getan, ihn hierher zu bringen. Wir müssen das mit den Räten sämtlicher Contraden besprechen. Die wissen am besten, was zu tun ist. Und bis dahin lege ich ihn in unseren Safe, wo er vor Licht und Luft geschützt ist.« Voller Hingabe faltete er den Cencio wieder zusammen. »Ich verspreche dir, dass ich gut darauf aufpassen werde. Unser Safe ist sehr sicher.«
»Aber meine Eltern haben mir die Sachen hinterlassen ...«, wagte ich einzuwenden.
»Ja-ja-ja, aber so etwas sollte nicht einer einzigen Person gehören. Keine Sorge, unsere Verantwortlichen wissen bestimmt, was zu tun ist.«
»Wie wäre es, wenn ...«
Peppo bedachte mich mit einem strengen Blick. »Ich bin dein Patenonkel. Vertraust du mir nicht?«
IV.II
Was sagst du? Wie gefällt dir dieser Mann?
Heut Abend siehst du ihn bei unserm Fest
Siena, im Jahre 1340
Maestro Ambrogio war die Nacht vor Maria Himmelfahrt so heilig wie der Weihnachtsabend. Im Lauf der abendlichen Wache füllte sich die ansonsten dunkle Kathedrale von Siena immer mit Hunderten riesiger Votivkerzen, von denen manche mehr als fünfzig Pfund wogen. Eine lange Prozession aus Vertretern sämtlicher Contraden bewegte sich dann durch den Mittelgang auf den goldenen Altar zu, um die Schutzherrin Sienas zu
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